Keine Angst vor Anakondas
Skandinavien bis Ostsibirien. Die wenigsten von ihnen kommen hier mit Menschen in Kontakt. Doch jedes Jahr treten sie die große Reise nach Nordafrika oder in den Vorderen Orient an, wo sie überwintern. So ganz weltfremd können sie doch eigentlich nicht sein.
Lappland, das ist der hohe Norden, da, wo im Sommer das Licht nicht ausgeht und es im Winter vor Kälte nur so klirrt. Im Hochland herrschen subpolare Bedingungen. Es ist ein Land, das keine Grenzen kennt, denn es war nie ein politisches Gebilde. Lappland, das ist so ziemlich alles in Skandinavien oberhalb des nördlichen Polarkreises. Der wiederum teilt Norwegen, Schweden und Finnland ungefähr im oberen Drittel dieser Länder. Es ist das Land der Samen, Ureinwohner, die heute nur noch vier Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie leben von den halbwilden Rentierherden, die ihnen gehören. In Lappland kommen nur zwei Menschen auf einen Quadratkilometer, außerhalb der Städte lebt praktisch niemand mehr.
Die beiden Tierfilmer starten Anfang Mai. Vier Monate haben sie Zeit, um im skandinavischen Sommer die Regenpfeifer zu finden, zu filmen und Freundschaft mit einem von ihnen zu schließen. Noch ist alles tief verschneit und vereist in den Bergen an der Eismeerküste Norwegens. Sie nehmen sich Zeit, den Winter von Lappland einzufangen. Der Sage nach müssen sie bereit sein, wenn die Regenpfeifer aus der Ferne ihr Brutgebiet erreichen. Da sind die beiden gewissenhaft. Und so filmen sie schon einmal Schneehase und Schneehuhn, beide noch wölkchenweiß in ihrer Wintertracht. Sie wollen dem Mornell vom Winter in den Bergen erzählen können, wenn der von seiner langen Reise aus den sonnigen Halbwüsten jenseits von Europa heimkehrt. Sie wissen, dass sie viel Zeit mit einem Mornell verbringen müssen. Nur so kann genug Vertrauen aufgebaut werden und das Experiment gelingen.
Juni. Die Sonne scheint jetzt rund um die Uhr. Der Schnee schmilzt rasant dahin. Wassermassen stürzen druckvoll aus den Hochlagen dem Meer entgegen. Die ersten schneefreien Flächen treten hervor. Zwischen Zwergsträuchern, Moosen und Flechten sprießen Gräser und Kräuter aus dem aufgetauten Boden. Ernst Arendt und Hans Schweiger hoffen auf diesen ersten freien Flächen Mornellregenpfeifer zu finden. Auf den Schneeflächen würde der braune Vogel auffallen wie ein Hammerhai im Nichtschwimmerbecken eines Freibades. Das kann sich der sagenumwobene Láhol nicht leisten. Feinde wie Fuchs und Adler würden ihn nur zu gerne in die Fänge bekommen. Doch der Vogel weiß, dass er in der schneefreien Tundra bestens getarnt ist.
Im Irgendwo der Tundra
Mit Ferngläsern suchen die beiden Tierfilmer die Inseln im Schnee sorgfältig ab. Sie sind sogar auf Skiern unterwegs, um die freien Inseln zu erreichen. Jede kleine Bewegung am Boden, jeder auffliegende Vogel könnte das Objekt der Begierde sein. Wieder einmal huscht ein Tier durchs Blickfeld des Fernglases. Es ist ein Vogel, der auf langen gelben Beinen unterwegs ist, ungefähr so groß wie eine Drossel. Er hebt den Kopf, schaut in die Runde. Flink trippelt er 20 Meter weiter. Die Tierfilmer haben den Vogel jetzt beide im Visier. Als der stehen bleibt, erkennen sie einen weißen Streifen um den Kopf. »Da, das ist doch einer!«, schallt es durch die Tundra. Wieder Trippeln. Sie können es kaum glauben, sie haben einen gefunden. Flink huscht der Mornell weiter, bleibt stehen, reckt den Hals, schaut sich zu den beiden um. »Was sind das denn für welche?«, mag sich der Mornellregenpfeifer fragen, der die beiden längst bemerkt hat. Ein zweiter Mornell taucht auf. Seitlich, wie ein Balletttänzer, bewegt er sich auf den ersten zu. Es ist ein Paar, das sich schon gefunden hat. Ernst Arendt und Hans Schweiger jubilieren. Das geht gut los. Sie beobachten, wie sich das Weibchen auf den Boden drückt und Pflanzenreste beiseiteschiebt. Das ist ein eindeutiges Zeichen für das Männchen, eine geeignete, möglichst unscheinbare Stelle für das Nest ausfindig zu machen. Gerne wählen sie als Standort eine etwas erhöhte Stelle in möglichst flachem, gut überschaubarem Gebiet, die freie Rundumsicht gewährt und in der sich kein Wasser ansammeln kann. Sie bevorzugen ein Gelände mit nur spärlicher, niedriger Vegetation. Bäume mögen sie nicht. Als Nest scharren die Männchen nur eine angedeutete Kuhle aus und polstern diese mit ein paar weichen Pflanzenteilen – fertig.
Die Regenpfeifer in der Tundra wohnen sehr einsam. Das ist ihr Schutz. Sie brüten
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