Keine Angst vor Anakondas
gleiten die stromlinienförmigen Fische so elegant durchs Wasser, als würden sie schweben. Jeder Fisch hängt uns mühelos ab. Dem Menschen gegenüber sind sie in ihrem Element stets im Vorteil. Sie sind hier um ein Vielfaches schneller und wendiger als er.
Statistisch gesehen ist es höchst unwahrscheinlich, durch einen Stachelrochen ums Leben zu kommen. Lediglich zwei tödliche Unfälle mit diesen Fischen waren bis 2006 dokumentiert. Sie gelten nicht als angriffslustig. Womöglich lässt sich Steve von diesem Wissen zu seinem leichtsinnigen Verhalten hinreißen. Er taucht dicht über den Rochen hinweg. Plötzlich schnellt der lange, dünne Schwanz mit seiner stilettförmigen Spitze nach oben, und der Rochen sticht zu. Sein spitzes Schwanzende trifft Steve in die Brust. Steve weiß, dass die Schwanzenden von Stachelrochen mit giftigen Stacheln versehen sind und dass die Tiere im Angriffsfall ihren Schwanz wie eine Stichwaffe benutzen und mit großer Kraft in den Körper ihres Feindes stoßen können.
Wie immer, wenn sich Steve einem Tier nähert, läuft die Kamera und zeichnet die Attacke des Rochens auf. Steve soll sich den langen, dünnen Schwanz noch selbst aus der Brust gezogen haben. Dann fällt er in Ohnmacht, aus der er nicht mehr erwacht. Der Rochen hatte ihn ausgerechnet ins Herz getroffen. Ein schnell herbeigerufener Arzt kann nur noch seinen Tod feststellen. Wäre Steve eines Tages durch ein Krokodil oder eine Giftschlange schwer verletzt oder getötet worden, hätte dies kaum jemanden wirklich überrascht. Aber durch einen Rochen, das hat sich niemand vorstellen können. Wie oft hat er sich viel gefährlicheren Tieren genähert, sie in die Hände genommen und ihnen sein Leben anvertraut. Und immer ist es irgendwie gut gegangen. Wie oft hatte er Glück, dass ihm nichts Schlimmeres zustieß als ein paar kleinere Verletzungen, die er davontrug. Er hätte wohl nicht ins Wasser gehen sollen. Das Wasser war nicht sein Element.
Für Philippe Cousteau Jr. und die Filmcrew war es eine schwierige Entscheidung, ob sie weitermachen sollten oder nicht. Sie rangen sich dazu durch, Steve Irwins letzten Film Ocean’s Deadliest fertig zu produzieren. Alle waren sich sicher, er hätte es so gewollt. Das starke Plädoyer des Films für den Schutz der Tiere und des Riffs war ganz in seinem Sinne. Szenen von seinem letzten Tauchgang mit dem Rochen sind nicht im Film enthalten. Die Kopien dieser Aufnahmen sind alle vernichtet worden, das Original erhielt seine Frau Terri. Der Film macht Steves Tod nicht zum Thema. Lediglich zum Schluss erscheint der Schriftzug: »In Erinnerung an Steve Irwin«. Steve Irwin wurde im »Australia Zoo« an einer Stelle beigesetzt, die nur seiner Frau Terri, seinen Kindern Robert Clarence, Bindi Sue sowie dem engsten Familienkreis bekannt ist. Das Angebot eines Staatsbegräbnisses lehnte die Familie ab. Steve gehört zu seinen Krokodilen. Seine Frau Terri sagt, dass jeder Tag mit ihm ein Abenteuer gewesen sei. Australien hat mit seinem Tod eine der schillerndsten Persönlichkeiten des Landes verloren. Die Salties ihren größten Fürsprecher.
8
Ein Zehnfinger-Nest für den Regenpfeifer
4:46 Uhr
Schweigen. Wir sitzen in Gedanken versunken da und betrachten unsere Anakonda.
»Ich habe gestern einen lebenden Dinosaurier gesehen!«, platzt Jörg plötzlich heraus.
Ich lache, diese Aussage ist einfach zu skurril.
»Soll ich jetzt Angst haben, dass Tyrannosaurus rex gleich aus dem Dickicht hervorbricht?«
»Nein, du brauchst keine Angst zu haben!«, beruhigt mich Jörg.
»Hast du vielleicht einmal zu viel Jurassic Park gesehen?«, frage ich ihn.
»Bei meiner Ehre als Biologe, ich schwöre, ich habe einen Dinosaurier gesehen. Genau genommen sogar mehrere!«
Ich werfe einen Blick auf die Uhr, es ist spät, aber noch ist kein Morgenlicht zwischen den Baumwipfeln auszumachen. Bis jetzt hat Jörg die Nacht durchgemacht, da er nach seiner Nachtwache bei mir geblieben ist. Ich betrachte seine Kaffeetasse und durchforste mein Gehirn danach, ob Koffein Halluzinationen auslösen kann. Dann schaue ich in sein Gesicht. Er sieht mich mit großen glänzenden Augen an. Es ist ihm anzumerken, dass er schier platzt und endlich des Rätsels Lösung präsentieren will.
»Du hast auch Dinosaurier gesehen, es aber nicht bemerkt!«, behauptet Jörg.
»Also gut, raus damit, wann und wo habe ich gestern einen Dino gesehen?«
»Du erinnerst dich doch an den Fischadler, der einen Piranha gefangen hat?«
»Ja,
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