Keine Angst vor Anakondas
meistens nur bis zum Schlüpfen oder kurz danach.
Ernst Arendt und Hans Schweiger sind jetzt schon seit Wochen in der Gegend. Ihr Leben spielt sich in ihrer Basis, dem Unimog, ab. Wenn sie zu ihrem Mornell gehen, lassen sie den Unimog an der Straße zurück. In der Nähe des Nestes bauen sie ein Zelt auf, um ihre Geräte und sich selbst schützen zu können, wenn Regenschauer aufziehen. Als es einmal zu hageln beginnt, gehen sie besorgt zum Nest des Regenpfeifers. Wenn der jetzt sein Nest verlässt und die Eier kaputtgehen, dann war all ihre Mühe mit dem Vogel umsonst. Als sie bei ihm ankommen, wundern sie sich, wie stoisch und scheinbar gelassen er das Unwetter aussitzt, als wäre er ein kritisierter Politiker in hoher Position. Die Jungen schlüpfen nach 24 bis 28 Tagen aus den Eiern. Innerhalb dieser Zeit müssen sie das Vertrauen des Mornells gewinnen. Schon 10 bis 30 Stunden nach dem Schlupf verlassen die Jungen das Nest. Dann sind sie für die Tierfilmer nicht mehr auffindbar.
Die beiden Männer legen sich direkt vor das Nest. Der Mornell ist kurz zuvor ausgeflogen. Der Tag der Entscheidung, ob der Láhol, wie in der Sage geschildert, in die Hände klettern wird, rückt näher. Als der Regenpfeifer zurückkommt, setzt der sich aufs Nest und dreht sich vis-à-vis zu ihnen. Sie schauen sich direkt in die Augen, keine Unterarmlänge voneinander entfernt. Ernst Arendt und Hans Schweiger strahlen wie Honigkuchenpferde. Das Zutrauen des Mornells rührt sie. Nach einer Weile ziehen sie sich ganz behutsam zurück. Sie wollen den Vogel ja nicht erschrecken. Sie haben viel Zeit vor dem Nest zugebracht.
Ein wenig später möchten sie wissen, ob der Regenpfeifer sich wirklich in ihren Händen niederlässt. Ernst Arendt liegt wieder vor dem Nest, auf dem der Mornell brütet. Ganz langsam nähert er sich mit einer Hand, berührt den Vogel vorsichtig. Der steht auf und schaut zu, wie der die Eier herausnimmt und auf seine zweite Hand legt. Dann formt er mit seinen Händen ein schalenförmiges Nest, vergleichbar groß dem Nest des Mornellregenpfeifers. Der ist erst einmal ratlos und läuft aufgeregt ein paar Meter nach links, dann nach rechts und schaut sich die Situation von allen Seiten an. Er trippelt zu Ernst Arendt zurück, vor seine Hände, prüft noch einmal die Situation. »Soll ich es wagen, mich zu den Eiern in die Hände des halben Rentiers zu setzen?«, mag er denken. »Die beiden großen Zweibeiner sind schon längere Zeit über immer wieder hier. Die haben mir nie etwas getan, sind freundlich. Die sind in Ordnung, ganz bestimmt. Die tun mir nichts, wenn ich in die Hände schlüpfe und die Eier weiter bebrüte.« Mit ein paar kleinen Schritten klettert er in die Handschale von Ernst Arendt und lässt sich auf den Eiern nieder. In menschlichen Kategorien ist es für ihn ein Wasserbett, das wohlig von unten wärmt. Nach zwei Wochen intensivem Kontakt haben die beiden die Prüfung bestanden, und die Sage bewahrheitet sich: Der Mornell vertraut den Tierfilmern!
Für den menschlichen Nestbauer ist es ein ulkiges Gefühl, weil der Mornell so kalte Füße hat. Der wiederum rückt die Eier noch einmal zurecht, breitet sein Gefieder aus und lässt sich endgültig zum Brüten nieder. Dann sitzt er da, guckt den Menschen an oder guckt ihn eben nicht an, weil das plötzlich das Selbstverständlichste auf der Welt für ihn ist. Für ihn ist alles in Ordnung.
Es ist ein bewegender Moment, wie die Versöhnung zwischen Mensch und Tier im Paradies. Tief dringt er in die Seelen der Männer ein, indem er ihnen sein Urvertrauen schenkt. Fast alle wilden Tiere flüchten ja vor den Menschen. Der Mornellregenpfeifer vertraut Ernst Arendt alles an, was er besitzt: seine Freiheit, sein Leben, seinen Nachwuchs. Die beiden Filmer sind verblüfft und gerührt. Es beschleicht sie ein unglaublich schönes, erhebendes Glücksgefühl. Ein Moment, in dem sich ihr Leben als Tierfilmer vor ihnen abspult. Sie sind dankbar, dass sie das erleben dürfen. Es kommt ihnen so vor, als hätten sie ein Märchen verfilmt, obwohl sie im Freiland mit einem wilden Tier gearbeitet haben. Beide sind sich einig, dass sie ihren emotionalsten Film gedreht haben – Die Saga vom Vogel in der Hand .
9
Der Clan der Vielfraße
05:01 Uhr
»Hast du schon einmal davon gehört«, reißt mich Jörg aus meinen Gedanken über den Vogel in der Hand, »dass es Berechnungen darüber gibt, wie viel Kilo Fleisch Tyrannosaurus rex hätte verspeisen müssen, wenn er wie die
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