Keine Entschuldigungen
noch sich selbst gegenüber –, wie nahe er der Wahrheit kam. „So ist es nicht.“
„Es ist genau so.“ Er bedeckte ihre Brandblasen mit dem Pflaster und ging dann ohne einen Blick zurück in ihr Schlafzimmer.
„Wo gehst du hin?“, fragte sie und ignorierte die Panik, die ihr Rückgrat hinaufkroch.
„Zur Arbeit.“
Sie betrat direkt hinter ihm ihr Schlafzimmer. „Heute ist Sonntag.“
„Dann gehe ich nach Hause.“ Er zog die Anzughose an, die er am Vorabend getragen hatte. „Bitte mich nicht, bei dir herumzusitzen und dir dabei zuzuschauen, wie du dich selbst kaputt machst. Das kann ich nicht.“
„Also, wer ist denn hier melodramatisch?“, verlangte sie zu wissen. Sie versperrte die Tür, als er sich an ihr vorbeischieben wollte.
Ein Blick aus diesen brennenden Augen versengte sie. Sie erstarrte. „Es ist kein Melodram. Es ist der Schmerz. Ich bin überrascht, dass du ihn nicht erkennst und auch nicht mein Bedürfnis erkennst, mich so weit wie möglich von diesem Schmerz zu distanzieren.“
„Ich laufe nicht weg.“ Sie war verletzt, und sie spürte, dass man es ihrer Stimme anhörte.
Er schnaubte. „Also, du bleibst auf keinen Fall in der Nähe.“
„Das hier ist meine Wohnung. Du bist derjenige, der wegläuft.“
Verärgert schüttelte er den Kopf. „Du bist heute Früh schon weggelaufen, ehe du überhaupt aus dem Bett aufgestanden bist. Du weißt es, und ich weiß es auch.“
Die Wahrheit schlug ihr die Luft aus den Lungen. „Du verstehst das nicht.“
„Ich verstehe eine Menge. Ich habe seit drei Monaten eine enge Beziehung zu dir, Annalise. Du glaubst, ich hätte dich in der Zeit nicht kennengelernt? Dein wahres Ich? Deinen besten Absichten zum Trotz?“ Er schnaubte wieder. „Sei nicht so streng mit mir. Ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst.“
„Das ist doch Schwachsinn.“ Unerklärlicherweise war sie plötzlich wütend. Wie konnte er ihr solche Dinge sagen? Wie konnte er das auch noch ernst meinen?
„Du glaubst dir selbst doch nicht eine Minute lang. Wenn du dir glauben würdest, sähst du nicht so verängstigt aus. Wann wirst du nur endlich erwachsen und hörst auf, die Knallharte zu spielen?“
„Ich bin knallhart. Du bist nur zu vernarrt in mich, um das zu erkennen.“
„Du hast das weichste Herz, das mir je begegnet ist. Du versteckst es nur hinter unzähligen Schutzwällen, sodass du nie verletzt werden kannst. Erklär mir, wie man damit leben kann, Annalise. Ich versteh es nämlich einfach nicht.“
„Es ist besser als die Alternative.“
Ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal, seit sie diesen Streit begonnen hatten, und alles Kämpferische schien aus Gabe zu weichen. Er wirkte … geschlagen. Das hatte sie bei ihm noch nie erlebt. „Vermutlich ist es das.“ Er sank aufs Bett und schlüpfte in seine Schuhe, ohne zuvor die Socken anzuziehen. Dann stand er auf und ging zur Wohnungstür. „Ich rufe dich an.“
„Oh, ich werde den Atem anhalten vor Spannung.“ Da war es wieder, das sarkastische Miststück in ihr, das zu pflegen sie so viele Jahre aufgebracht hatte. Warum hatte es heute Morgen so lange gedauert, ehe sie diese Seite von sich zeigen konnte?
„Annalise.“ Für einen Moment wurde sein Blick zärtlich, und er streckte die Hand nach ihr aus. Aber sie schüttelte sie ab.
„Geh nach Hause, Gabe. Wir sind hier fertig.“
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging aus der Wohnung, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er besaß nicht mal die Höflichkeit, die Tür hinter sich zuzuknallen.
Ihre Knie zitterten. Langsam sank sie an der Wand herunter, an die sie sich gelehnt hatte, seit er ihr gesagt hatte, er werde jetzt gehen. Na also, sie hatte es getan. Sie hatte ihn weggejagt.
Ein Glück, dass ich den los bin, beschloss sie. Doch dann legte sie ihr Gesicht auf ihre Knie und weinte wie ein Baby.
6. Kapitel
Es war ein trostloser Montagabend, der einem ebenso trostlosen Tag folgte. Regen plätscherte auf den Gehweg. Zu dieser Jahreszeit war das für San Diego ungewöhnlich. Jeder, der auf der Straße unterwegs war, versuchte, irgendwo Schutz zu suchen. Nur sie nicht. Seit Gabe vor acht Tagen ihre Wohnung verlassen hatte, fiel es ihr schwer, sich über irgendetwas aufzuregen.
Annalise irrte durch die Innenstadt, lief auf den Bürgersteigen und war dabei ganz in ihre Gedanken versunken, sodass sie kaum merkte, wohin sie ging oder wie sehr sie nass wurde. Sie hatte seitdem von Gabe weder etwas gesehen noch gehört. Er verließ ihr
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