Keine Frage des Geschmacks
er nicht sehen sollte. Tonlos zog er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss, rief den Aufzug und fuhr die vierzehn Stockwerke des Hochhauses aus den dreißiger Jahren hinunter, dessen Fassade mit rostbraunen Klinkern verblendet war und das von außen so wenig zu den architektonischen Meisterwerken Triests zählte wie die Questura, von der es nur durch die Ruinen der römischen Arena getrennt war. Von den oberen Etagen aber genoss man einen unverbaubaren Ausblick über die Stadt und den Hafen – ein Adlerhorst, von dem aus man alles unter Kontrolle hatte und sich im richtigen Moment wie ein Blitz auf die Beute stürzen konnte.
Es dämmerte bereits, als Aurelio auf den Largo Riborgo hinaustrat. Ein Streifenwagen schoss mit Blaulicht und Sirene an ihm vorbei. Aurelio suchte Deckung hinter einem Lieferwagen. Lange musste er nicht warten. Wieder war es eine der üblichen langbeinigen Schönheiten, die den richtigenKlingelknopf drückte und wenig später im Entree verschwand. Die Frauen, die Lele bestellte, glichen sich vor allem in ihrer ausladenden Oberweite und der Tatsache, dass sie am nächsten Morgen mit einigen Scheinen mehr in der Handtasche das Haus wieder verließen.
Auch von Lele hatte Aurelio heimlich Bilder gemacht, die er hütete wie seinen Augapfel. Er war der einzige, der Leles Vorlieben kannte.
*
Laurenti hatte unzufrieden den Hörer auf den Apparat geworfen. Den Code der knappen Sätze Raccaros kannte er von anderen einflussreichen Persönlichkeiten – ganz gewiss würde er demnächst von irgendeiner höheren Stelle einen elegant getarnten Rüffel bekommen, den armen Mann zu Hause gestört zu haben. Leute, die sich freiwillig die schwere Verantwortung für das Gemeinwohl auf ihre Schultern lüden, hätten verdient, die raren Momente der Erholung ungestört zu verbringen. Laurenti war solche Ermahnungen gewohnt.
»Keine Sorge, Raccaro«, hatte er noch gesagt, bevor der Alte auflegte. »Wir sehen uns früher, als Sie glauben.«
Proteo Laurenti trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Natürlich hatte Raccaro die Nummer des Polizeipräsidiums auf dem Display erkannt. Man munkelte, er habe den einen oder anderen Verbündeten unter den Kollegen, der ihn auf dem Laufenden hielt.
Die Gesellschaft spiegelte sich auch ihrem Polizeiapparat: Es gab Beamte, die Leles politischem Umfeld nahestanden, und jene Kollegen, die ihre Aufgabe als bedingungslosen Auftrag zum Schutze der Demokratie verstanden. Dann gab es die Hübschen und die Hässlichen, die Gepflegten und die mit fettigem Haar und Schuppen, jene, die einen faulen Lenz schoben, während ihr Schreibtischkollege sich Tag und Nachtden Arsch aufriss und oft genug aus der eigenen Tasche für Spesen aufkam, die eigentlich die Allgemeinheit zu tragen hatte. Und es gab Plaudertaschen und andere, die niemals das Maul aufbekamen, nicht einmal, wenn es darauf ankam. Laurenti ging davon aus, dass Lele wusste, dass er zu seiner Kalabrien-Connection befragt werden sollte. Natürlich war ihm dann auch klar, dass seine Telefone angezapft wurden, und er hatte sich vermutlich längst mit Nummern versorgt, die Staatsanwaltschaft und Polizei nicht kannten – italienische, slowenische, österreichische oder kroatische.
»Marietta!«, rief Laurenti ins Vorzimmer, aus dem seit geraumer Zeit kein Mucks mehr gekommen war. »Schick Battinelli zu mir.«
Als er keine Reaktion vernahm, erhob er sich und ging hinüber. Der Computer war ausgeschaltet, ihre Handtasche fehlte, dafür hatte sie den randvollen Aschenbecher stehenlassen. Er schaute auf die Uhr, es fehlten sechs Minuten bis zu ihrem Dienstschluss. Sollte das so weitergehen, käme er um ein ernstes Gespräch mit seiner Assistentin nicht umhin.
Laurenti blieb nichts anderes übrig, als selbst den Inspektor zu rufen, der ein paar Sekunden später auf der Schwelle stand.
»Setz dich.« Laurenti warf einen Blick auf die Tür, doch Battinelli hatte sie wie immer geschlossen. »Es gibt da eine Sache, die du überprüfen kannst. Allerdings müsstest du ein paar Urlaubstage dafür opfern.«
Gilo Battinelli mit seinen meerblauen Augen musste normannische Vorfahren gehabt haben. Er stammte von der Insel Lampedusa, war erst seit drei Monaten in Triest und machte den Eindruck, nie wieder weg zu wollen. Bereits nach vier Wochen hatte er sein Gespartes zusammengekratzt und einen Kredit aufgenommen, um ein gebrauchtes Segelboot samt zugehörigem Liegeplatz in der Marina des kleinen Hafens von Grignano
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