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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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aus?«
    »Ich bin mit Bill Madison vom ›Independent‹ zum Lunch verabredet. Er hat mich stets gut behandelt und war sofort bereit, mich zu treffen, zumal ich ihm häufig Informationen zugespielt habe.«
    »Ich hingegen werde mich persönlich von den Qualitäten deines Lovers überzeugen. Ich fliege morgen um elf Uhr zehn von Stansted aus.«
    »Was hast du vor?«, rief Jeanette entsetzt.
    »Kein Grund zur Eifersucht. War nur ein Scherz.« Jeanette hatte sich noch immer nicht aus ihrer Starre gelöst. »Ich werde eine Reisereportage über die Ecke schreiben und mir nebenbei diese Leute ansehen. Ich bin neugierig, wie dieser Kerl reagiert, wenn ich ihm die manipulierten Fotos vorlege und den Artikel, den Madison schreibt. Ich nehme an, der wird gleich morgen erscheinen. Eine solche Geschichte drücken die sofort ins Blatt. Wer ist eigentlich dein Anwalt?«
    Jeanette stutzte einen Augenblick. »Jeremy Jones von Beckett, Joyce, Plath, Stein & Woolf. Weshalb fragst du?«
    Miriam hob die Brauen. »Schweres Geschütz! Was hältst du davon, wenn Jones eine Klage aufsetzt mit einer exorbitant hohen Schmerzensgeldforderung? Wenn er das bis morgen früh schafft, dann nehme ich davon eine Kopie mit. SolcheSchreiben verursachen rasch Panik. Und bei der Presse kommt es übrigens auch gut an, wenn du bereits den Rechtsweg gegen die Kerle eingeschlagen hast. Es macht alles noch glaubwürdiger. Die Leute werden deine Courage bewundern. Das ist besser als eine Wahlkampagne von Saatchi & Saatchi.«
    Jeanette hatte bereits die Nummer gewählt und ließ sich mit ihrem Anwalt verbinden, um einen Termin für den Nachmittag zu vereinbaren. »Du wirst das Schreiben bekommen, und wenn ich morgen einen Fahrer zum Flughafen schicken muss.«
    »Der könnte mich dann eigentlich gleich mitnehmen, was meinst du?«
    »Wenn ich dich nicht hätte.« Jeanette McGyver drückte der Freundin einen Kuss auf die Wange und entschwand gleich darauf mit wehenden Mantelschürzen, unter denen die in bleiche, blickdichte Nylons gehüllten Waden wie Zündhölzer blitzten. Die hochhackigen Pumps an ihren Füßen waren himbeerfarben wie ihr Lippenstift, die Handtasche und das hochgeschlossene Kostüm. Noch in der Tür hob sie den Arm, um sich ein Taxi herbeizuwinken.
     
    *
     
    Am Tag ihrer Abreise war London noch immer regengrau gewesen, und es schien, als fiele der Sommer auf den Britischen Inseln in diesem Jahr aus. Mit der U-Bahn fuhr sie zum Bahnhof Liverpool Street und stieg in den Stansted-Express um. Eine Stunde dauerte es noch, bis sie sich über die Laufbänder des Flughafens auf den Weg zum Terminal machen konnte, um das Gepäck aufzugeben und schließlich die Passkontrolle zu passieren, wo sie sich wie immer etwas länger als die anderen dem prüfenden Blick des Grenzpolizisten auszusetzen haben würde. Obwohl die Metropole Millionen Einwohnerhatte, deren Vorfahren keine blonden Briten waren, schärfte sich der Blick vieler Beamte, wenn ihnen ein Mensch dunkler Hautfarbe gegenüberstand. Vor allem seit die Amerikaner weltweit den Sicherheitsstandard diktierten. Präsident hin oder her. Im Namen der Freiheit. Die Staatsangehörigkeit allein galt längst nichts mehr, erst recht nicht, wenn der Geburtsort auf einem anderen Kontinent lag.
    In der Abflughalle musterte Miriam die Leute, die mit ihr das Flugzeug besteigen würden. Vom Rucksacktourist bis zum Schlipsträger war alles dabei, einige Menschen von asiatischem Einschlag, die während der Wartezeit in physikalische Fachliteratur vertieft waren, und einige Frauen mit Kopftuch oder Tschador. Und immer wieder hörte sie slawische Ausdrücke. Ihr Italienisch brächte sie garantiert schnell wieder auf die Reihe, ein Tag würde reichen, immerhin hatte ihr Vater in ihrer Kindheit ausschließlich ialienisch mit ihr gesprochen. Und auch er hatte es von seinem Vater gelernt, so wie Miriam versucht hatte, es an ihre Tochter weiterzugeben.
    Ihr Herz schlug höher, als die Maschine nach zweistündigem Flug die Schleife über die sonnenbeschienene Lagune von Grado zog und ihr Blick im Landeanflug auf die Steilküste vor Triest fiel. Die Ansage des Piloten machte die Reisenden darauf aufmerksam, dass sie die Uhren um eine Stunde vorstellen sollten. Die Außentemperatur betrug neunundzwanzig Grad bei stabiler Wettervorhersage. Nach dem langen Anfahrtsweg durch das regennasse London und dem turbulenzenreichen Flug über die Alpen war Miriam überrascht, dass sie die letzten Meter vom Flugzeug zum Terminal des

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