Keine Frage des Geschmacks
beiden Fenster ihres Zimmers öffneten sich auf den Platz, Miriam gefiel dieser Ort. Sie warf einen Blick auf den Stadtplan und stellte fest, dass die Touristeninformation gleich nebenan im Erdgeschoss des Rathauses lag. In einer halben Stunde würde sie dort eine freundliche Dame erwarten, der sie telefonisch ihr Ansinnen vorgetragen hatte. Diese hatte Miriam angeboten, Termine bei Importeuren und Röstereien zu organisieren und ihr ein paar typische Cafés zu nennen, die sie für ihre Reportage unbedingt besuchen sollte. Miriam würde diese Frau auch nach dem Fluss im Friaul fragen, dessen Name wie der ihrer Familie lautete: Natisone.
Hinaus
Internationale Verschwörung mit Sex-Skandal und Englische Spitzenpolitikerin in Porno-Falle und Intrige durch Bildmanipulation . Die Nachricht brachte Auflage und prangte an diesem Mittwochmorgen in fetten Lettern auf den Titelseiten der Provinzblätter. Gestern Nachmittag war per Kurier ein Schreiben in die unterbesetzten Lokalredaktionen geflattert, Absender war eine Londoner Anwaltssozietät mit entsetzlich langem Namen. Dem Anschreiben war ein Exemplar des »Independent« beigefügt, und die Internetrecherchen der Journalisten bestätigten, dass der Artikel tatsächlich dort erschienen war. Nachdem man Giulio Gazza für eine Stellungnahme nicht hatte auftreiben können und weder Questura noch Staatsanwalt von der Sache wussten, folgte man in großen Zügen dem Artikel der britischen Kollegen und dichtete einiges an Lokalkolorit hinzu: So befürchtete man Konsequenzen für die ohnehin schon von der Wirtschaftskrise gebeutelte Tourismusbranche sowie diplomatische Spannungen, wo doch das Ansehen Italiens gerade in der englischen Presse stark angeschlagen sei, seit die dortigen Boulevardblätter mit geradezu voyeuristischem Hochgenuss über die Eskapaden des Premiers berichteten. Das Anwaltsbüro sei im übrigen eines der mächtigsten Großbritanniens und habe die heftigsten internationalen Schlachten gewonnen. Der Name des Verdächtigen, den die englische Presse preisgegeben hatte, erschien jedoch nur als Initialen G. G., und auf einem verschwommenen Foto verdeckte ein Balken seine Augen. Daneben prangte die retuschierte Aufnahme aus dem »Independent«. Ein junger, schlanker Mann aber war deutlich im Halbprofil abgebildet.
»Marietta!«, rief Proteo Laurenti und legte das Blatt beiseite.»Den kennen wir doch!« Er tippte auf das Foto des Dicken mit dem Balken über den Augen.
Seine Assistentin hatte die Zeitung ganz offensichtlich noch nicht gelesen. Sie überflog die Zeilen.
»Das ist Gazza, ein Stammgast. Erinnerst du dich?«
»Im Winter vor acht Jahren hast du ihn vergeblich ausgequetscht«, schniefte Marietta mit grauem Gesicht. »Schlägerei unter Besoffenen mit Todesfolge. In einer Bar in der Via Rosetti, gegenüber vom Liceo Petrarca. Die Beteiligten hielten alle dicht und schoben dem Toten einmütig alle Schuld zu. Am Ende kamen sie mit Bewährungsstrafen davon. Die Kollegen vom Kommissariat für Eigentumsdelikte kennen den Kerl besser. Soweit ich mich erinnere, hat er eine ganze Reihe Vorstrafen auf dem Buckel, überwiegend Betrügereien. Kein besonders großes Licht.«
Marietta war an diesem Morgen erst spät im Büro erschienen und sah fürchterlich aus. Ihre Augen waren verquollen, als hätte sie die ganze Nacht geheult, und ihr Haar war unordentlich. Seit drei Tagen trug sie dieselbe Bluse. Auf Laurentis besorgte Frage nach ihrem Befinden heftete sie ihren Blick schweigend auf den Bildschirm ihres Computers. Was hatte der weiße Hase Bobo gestern bloß mit ihr angestellt?
»Und der soll in der Lage sein, eine solche Sache zu inszenieren?«
»Immer geht es gegen uns Frauen.« Marietta zog die Nase hoch. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Es dreht sich inzwischen alles nur noch um Sex.«
»Hört, hört. Das sind völlig neue Töne, dabei gibt es kaum jemanden, der eine höhere Trefferquote in diesem Landstrich erreicht hat als du. Was ist bloß los mit dir?«
In der Tat hatte Marietta ihr Leben bisher in vollen Zügen genossen und nie Mühe gehabt, wen immer sie wollte abzuschleppen. Bis vor drei Monaten eben. Nicht einmal mehr ans Meer ging sie, wo sie unzählige Sommer jede freie Minutean einem der Nudistenstrände unterhalb der Steilküste verbracht hatte. Trotz des wunderbaren Wetters hatte sie bis jetzt die Sonne gemieden und wurde nur noch in Begleitung des biederen Männchens gesehen, über den man munkelte, er sei eine Wühlmaus im
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