Keine Frage des Geschmacks
kleinen Flughafens zu Fuß und unter praller Sonne gehen musste. Dennoch dauerte es fast eine halbe Stunde, bis das Förderband an der Gepäckausgabe ansprang. Ihr Taxi war ein ausladender, weißer Kombi, der zuvorkommende Fahrer nahm ihr das Gepäck ab. Beim Einsteigen fiel ihr Blick aufdas Buch auf dem Beifahrersitz: eine Biografie von Benito Mussolini, dem Duce, der auf dem Umschlagfoto die Hand zum römischen Gruß reckte. Sie musste die Adresse zweimal wiederholen, noch stockte ihre Aussprache. Der Mann fragte sie höflich, woher sie komme, und schaute, als sie London sagte, zweifelnd in den Rückspiegel.
»Und wo haben Sie Italienisch gelernt?«, fragte er, als er auf die Autobahn einbog und an der Mautstelle ein Ticket zog.
»Mein Großvater war Italiener«, sagte Miriam.
Wieder schaute der Fahrer in den Rückspiegel. »Sooo?«
»Ich lebe zwar in London, bin aber in Äthiopien geboren«, sagte Miriam. »Er war Soldat.«
»Ach ja, unsere Kolonien.« Er räusperte sich kurz.
Sie hörte den Kommentar des Fahrers nicht, ihr Blick fiel auf das weite offene Meer, den Golf von Triest, als der Wagen auf die Küstenstraße einbog, deren Trasse hoch in den steil abfallenden hellgrauen Fels gehauen war. Ein atemberaubendes Panorama, an das sie sich noch oft erinnern würde. Die Sicht war glasklar, die Mittagssonne gleißte und das Wasser war von einem so tiefen Blau wie der Nachthimmel im Hochsommer. Windböen wirbelten an manchen Stellen Schaumkronen auf, an anderen zeichneten sie gerippte Muster auf die Wasseroberfläche. Eine halbe Meile vom Ufer entfernt lagen lange Reihen vertäuter Bojen, Muschelzuchten, die von zwei Kähnen abgeerntet wurden, auf denen Männer in gelbem Ölzeug an einem Förderband hantierten. Kurz hinter einem Tunnel, der durch den grauen Fels getrieben worden war, musste der Fahrer jäh bremsen, Menschen liefen über die Straße, und am Straßenrand parkten eine Menge Lastwagen.
»Schon wieder diese Leute vom Film. In Triest wird immer mehr gedreht, hoffentlich bringt es Touristen. Wie redet man in Äthiopien denn heute über uns? Wir haben damals viel Gutes ins Land gebracht. Aber dann war halt Krieg.«
»Ich lebe schon zu lange in England«, wich Miriam aus. Die Geschichte ihres Heimatlandes kannte sie gut, und die Italiener hatten dort Hunderttausende auf dem Gewissen. Entweder hatte der Taxifahrer einfach keine Ahnung, oder er gehörte zu denen, die den Faschismus verklärten.
»Und Ihr Großvater, wie hieß er mit Nachnamen?«
»Natisone«, antwortete sie zögerlich.
Wieder fixierte sie ein überraschter Blick durch den Rückspiegel.
»Natisone, wirklich?«
»Sagte ich doch, warum?«
»Als Nachname habe ich das noch nie gehört, doch nicht weit von hier gibt es einen kleinen Fluss, der so heißt. Drüben im Friaul. Vielleicht kam er von dort.«
Miriam war überrascht. »Es wird mir kaum mehr jemand sagen können. Meine Eltern sind seit langem tot.«
»Ist er denn nicht aus Abessinien zurückgekehrt?«
»Nein. Er blieb bei Frau und Kindern.«
»Hmm.« Der Taxifahrer schwieg ein paar Sekunden, dann fragte er: »Sind Sie ganz sicher, dass er von Geburt an Natisone hieß?«
»Wie denn sonst?«, murmelte Miriam und schaute aufs Meer hinaus. Vor langem einmal hatte sie gelesen, dass neben Partisanen, die sich im Widerstand den äthiopischen Rebellen angeschlossen hatten, auch manch ein anderer der italienischen Soldaten seine Identität geändert hatte. Entweder um der Bestrafung zu entgehen, weil er sich wider die faschistischen Rassegesetze mit Afrikanerinnen eingelassen hatte, oder weil in Italien eine ganze Familie auf seine Rückkehr wartete. Nach der Niederlage gegen die Engländer waren einige von ihnen in Äthiopien geblieben. Dass auch ihr Großvater seinen Nachnamen geändert haben könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Der freundliche Fahrer warf noch einen erstaunten Blickin den Rückspiegel, als sie auf seine Frage nach dem Grund ihrer Reise antwortete, sie würde eine Reisereportage für den »Traveller« schreiben: Triest und der Kaffee. Irgendwie schien der Mann für diese auffallende Frau mit ihrem wasserstoffblonden Bürstenhaarschnitt, der Markenkleidung und der feinen Handtasche keine Schublade zu finden.
»Geben Sie Acht: Hier ist immer alles anders, als man denkt. Sie werden es schnell bemerken«, sagte der Mann, als er auf den Parkplatz fuhr.
Er setzte sie vor dem Grandhotel an der großen Piazza ab und trug sogar ihr Gepäck bis zur Rezeption. Die
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