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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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hatte. Die ganzen Jahrzehnte über hatte das wurmstichige Ding auf dem Speicher ihres Hauses in San Daniele gestanden, das jetzt von Lauras Schwester bewohnt wurde und die Büros der alteingesessenen Schinkenproduktion beherbergte. Laura hatte das Möbel von einem Restaurateur richten lassen.
    »Gigi wird sich mächtig freuen«, sagte Laurenti. »Und du dich doch auch?«
    Patrizia blickte versonnen aufs Nachtmeer hinaus. »Jaja«, sagte sie dann. »Barbara ist bald vier Monate alt.«
    Laurenti ließ es dabei bewenden. Er war lediglich für die Einhaltung der öffentliche Ordnung und die Aufklärung der Delikte in der Stadt zuständig.
     
    *
     
    Beim dritten Glas Spumante in der Malabar hatte sie auf ihrem iPhone die Website des Fotoarchivs ausfindig gemacht. »Das Raccaro-Archiv – seit 1972. Die größte private Sammlung von Kriegsfotografien.« Ein Kurzporträt gab nur oberflächlich Auskunft über den Begründer, keine Altersangabe, kein Geburtsort, dafür sein Motto: »Die Macht der Bilder ist die Macht der Welt.« Eine Aufnahme ließ sich vergößern. Sie zeigte Raccaro mit dem Staatspräsidenten, der ihm für seine wirtschaftlichen Verdienste den Titel »Cavaliere del Lavoro«, Ritter der Arbeit, verlieh und ihm in einem Prunksaal voller Schlipsträger in dunklen Anzügen die Urkunde und das Goldene Kreuz überreichte. In diesen Orden, zu dem auch der Regierungschef gehörte, durfte laut Statut nur aufgenommen werden, wer im Privaten wie im Öffentlichen einen vorbildlichen Lebensweg vorweisen konnte, stets sorgsamseinen Pflichten als Steuerzahler nachkam, jegliche Vorsorge zum Wohle seiner Mitarbeiter leistete und weder in Italien noch im Ausland Geschäfte betrieb, die der nationalen Ökonomie zum Nachteil gereichten. Die Liste der Würdenträger der letzten hundert Jahre umfasste über zweieinhalbtausend Namen – nicht alle erfüllten die Kriterien der makellos weißen Weste.
    Dieses Fotoarchiv war der Aufhänger dafür, mit dem Mann in Kontakt zu treten. Ein Blick in den Stadtplan zeigte, dass die Geschäftsräume nur ein paar Straßenzüge entfernt lagen. Miriam beschloss, sich ein Bild davon zu machen, bevor sie sich irgendjemandem aus dem Haus vorstellte. Auf dem Weg überfiel sie eine Unruhe, und immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter. Doch da war nichts.
    Auf der Piazza Oberdan kickte eine Horde grölender Jugendlicher mit klappernden Bierdosen, während die Bora mit ihren Böen den Straßenstaub vor sich her trieb. In kurzer Zeit mussten die Kids mit den Piercings und den zerschlissenen Jeans den Stadtpolizisten zweimal ihre Ausweise zeigen. Miriam steuerte eine steinerne Bank im Windschutz einer Straßenbahnhaltestelle an, von wo sie einen ungestörten Blick auf den Eingang des Palazzo Vianello hatte. Ganz so wie Gazza es beschrieben hatte, krönten vier Obelisken das Dach des fünfstöckigen Gebäudes. Der Bauherr des Palazzo, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden war, musste doch sehr von sich eingenommen gewesen sein. Die schwülstige Architektur demonstrierte hemmungslosen Reichtum. Römische Kaiser hatten solche Granitsäulen als Beute aus Ägypten heimgebracht, und die Faschisten bedienten sich während ihrer blutigen Besatzung Äthiopiens am Stelenfeld in Akhsum. Woher aber stammten die Obelisken auf diesem Dach?
    Im Erdgeschoss musste sich die Zeitarbeitsagentur befinden, dort benutzten viele Leute den Eingang. Die schwereEichentür aber, hinter der das Treppenhaus seine Weitläufigkeit dem Glanz großer Zeiten verdankte, öffnete sich nur selten. In einer Stunde zählte sie fünf Personen. Den Lichtern in den Etagenfenstern nach zu schließen, wurde hier länger als in anderen Büros gearbeitet.
    Etwas später musterte Miriam neugierig eine nicht ganz junge Dame mit so ausladender Oberweite, dass sie schwerlich echt sein konnte, und der Minirock aus weißem Frotteestoff bedeckte kaum das überbetonte Hinterteil. Eine vordergründige Schönheit – wulstige, krass geschminkte Botoxlippen, fuchsfarbenes langes Haar, auffallend breite Schultern und trotz der Hitze weiße Stulpenstiefel, die bis übers Knie reichten. Miriam hätte darauf gewettet, dass aus dem Mund dieser Dame eine sonore Stimme dringen würde. Schwer vorzustellen, dass diese Erscheinung hier Büroarbeit erledigte. Etwas später stieg ein junger Mann von einem schweren Motorroller und klingelte, den Helm aber nahm er erst ab, als der Türsummer erklang. Sie notierte das Kennzeichen seines

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