Keine große Affäre
ersten Kuß an
Neujahr; seine Haut...
Sie griff sich ein Kissen und umarmte
es fest. Wie hatte sie nur seinen Gesang und sein erstaunliches Gedächtnis für
Songtexte vergessen können? Auf den Betonstufen vor dem Jugendclub hatte er
immer auf einer geborgten Gitarre herumgeklimpert und »Where Do You Go To, My
Lovely?« gespielt. Er beherrschte den gesamten Text (alle anderen kamen nur bis
Marlene Dietrich), und ab und zu sah er sie an, wenn er nicht gerade auf seine
Finger schaute, die zögernd die Melodie improvisierten. Er war nicht besonders
gut auf der Gitarre, aber wenn er die ersten paar heiseren, nervösen Töne
hinter sich hatte, konnte er wirklich singen, und seine Stimme war rein, wie
die von Paul McCartney. Sein Bruder und seine Greaser-Freunde, die auf ihren
bedrohlich aufheulenden Motorrädern herumlungerten, stimmten mit ein: »Di Da Da
Di Da Da Dam, Da Da Dam Dam Dam Dam Dam Di Da, Dadi Da, Dadi Da...« Sie nickten
mit den Köpfen und ahmten spöttisch die Akkordeonbegleitung nach.
Sie hörte die Nachricht bis zu Ende.
Das Band spulte sich zurück und stellte sich mit einem Klick aus. Im Zimmer
wurde es wieder still. Sie stand auf, strich sich das Kostüm glatt, schüttelte
das Federbett auf und schaltete das Licht aus. Dann überlegte sie es sich
anders, schaltete es wieder an und ging durch den Raum zum Anrufbeantworter.
Sie nahm das Band heraus und steckte es in ihre Handtasche, in die Innentasche
mit Reißverschluß.
»Das sieht viel zu gut aus, um es zu
essen«, sagte Neil zu Lia und bewunderte das Essen auf seinem Teller —
herzförmige Lachsstücke auf gebuttertem Braunbrot, das in Herzform geschnitten
war. Nur der Zitronenhalbmond am Tellerrand war nicht herzförmig.
Lia lächelte. »Ich hab die Idee aus
einem Rezept in der Zeitung, bei der Alison arbeitet. Aus der letzten
Sonntagsausgabe«, erklärte sie. »Ich habe gehofft, daß du es nicht gesehen
hast.«
»Was gesehen?« fragte er so ruhig, wie
er nur konnte.
»Das Rezept ... Ich dachte mir,
normalerweise liest er den Teil mit den Rezepten nicht.«
»Stimmt«, sagte er und steckte sich
ein Lachsherz in den Mund. Er bekam es kaum herunter, obwohl es sein
Leibgericht war, und er würde jeden einzelnen Bissen davon essen müssen, weil
er, kurz bevor sie ihm den Teller vorgesetzt hatte, verkündet hatte, daß er am
Verhungern war.
Es geschah ihm recht. Das kam davon,
wenn man auch nur eine Sekunde lang glaubte, das Lügen würde einem leichter
fallen, wenn man ein paarmal ungeschoren davongekommen war. Er kaute vor sich
hin. Er wußte, daß sie beobachtete, wie hart sein Kiefer an dem leichten Essen
arbeitete, und er konnte ihren Blick nicht erwidern.
»Das schmeckt toll«, sagte er, noch
mit vollem Mund, weil er das Schweigen brechen wollte, das Ewigkeiten
anzudauern schien. Er überlegte, was er sagen sollte, und starrte auf seinen
Teller. Zwei Herzen runtergewürgt, jetzt noch drei. Er nahm das dritte in die
Hand und sah es bewundernd an.
»Hey!« sagte er unvermittelt. »Du hast
beide Hälften symmetrisch hingekriegt!«
Erfreut darüber, daß er sich daran
erinnerte, schaute er sie an, doch in ihren Augen sah er nur blankes
Unverständnis.
»Ich habe eine Plätzchenform benutzt«,
sagte sie mit einem leichten Stirnrunzeln, weil sie aus seiner Äußerung Kritik
herauszuhören glaubte.
Dann fiel ihm ein, daß es nicht Lia
war, die darüber gesprochen hatte.
Ally, Lia, Ally, Lia. Ihre Namen
dröhnten in seinem Kopf und gingen ineinander über, so daß er sie nicht
mehr auseinanderhalten konnte. Er legte das Herz hin.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich
glaub, ich krieg ’ne Migräne.«
Und er schoß aus dem Zimmer und raste
nach oben ins Badezimmer, wo er sich heftig übergab.
Justine erzählte gerade, was sie am
Tag so erlebt hatten.
»Wir haben viel Spaß gehabt, findest
du nicht?« fragte sie Ben, der bis zu den Ellbogen in pürierten Aprikosen mit
Vanillesauce auf seinem hohen Kinderstuhl saß.
Er schlug mit dem Löffel auf das
Tablett und bespritzte den Boden mit orangefarbenem Brei.
»Wirklich?« Alison hörte nicht richtig
zu.
»Wir haben uns mit Guy und Anouska
getroffen, stimmt’s? Und wir schwimmen inzwischen schon sehr gut, und Tante Lia
hat gesagt...«
»Nein, nennen Sie sie nicht so«,
unterbrach Alison sie brüsk. Besänftigend fügte sie hinzu: »Sie ist nicht seine
Tante. Als ich klein war, hat meine Mutter mich gezwungen, all ihre Freundinnen
mit >Tante< anzureden, und, na ja, ich will
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