Keine große Affäre
hatte die ganze Nacht damit
verbracht, sich immer bizarrere Gründe für seinen Anruf zu überlegen, aber um
sechs Uhr morgens war ihr schließlich eingefallen, daß Charlie einfach
irgendwas von ihr wollte, denn das war der einzige Anlaß dafür, daß unabhängige
Produzenten ihren ganzen Charme spielen ließen. Danach hatte sie zwei Stunden
lang ungestört geschlafen und war relativ ruhig aufgewacht.
»Was ist, wenn er sich mit dir treffen
will?« forschte Pic weiter.
»Glaube ich nicht«, sagte Ginger.
»Aber wenn doch, sag’s mir bitte«,
sagte Pic besorgt.
»Spielst du etwa mit dem Gedanken,
dein Haar blond zu färben, ein paar meiner vorschwangerschaftlichen Klamotten
anzuwerfen und so zu tun, als wärst du ich?« fragte Ginger und biß in ihr
Doughnut.
»Gute Idee...«
Als sie klein waren, hatten sie es
manchmal geschafft, die Leute reinzulegen, indem sie die Kleider tauschten,
aber obwohl sie identisch aussahen, waren sie schon damals so unterschiedliche
Persönlichkeiten gewesen, daß der Schwindel meist nach ein paar Minuten
aufflog.
»Ich wußte, ich hätte dir nicht auf
die Nase binden sollen, wie toll er im Bett war...«
Pic wurde feuerrot. »Oh, ich wollte
nicht...«
»Ich weiß«, sagte Ginger und sah auf
die riesige schwarze Taucheruhr an ihrem Handgelenk. »Ich muß jetzt wieder an
die Arbeit.«
Am Sommerfliederstrauch wimmelte es
nur so von Schmetterlingen, und in der warmen, nach Geißblatt duftenden Luft
summte es hin und wieder, wenn eine Biene von einer Blüte zur anderen trödelte.
Lia lag im gesprenkelten Schatten des Apfelbaums auf einer Sonnenliege, döste
vor sich hin und fragte sich in ihren wachem Momenten, was Neil in dem
Schwangerschaftskurs so beunruhigt haben konnte.
Auf dem Weg dorthin war er so gut
gelaunt gewesen und hatte sich auf das Ende des Schuljahrs und die langen
Sommerferien gefreut, die vor ihnen lagen. Aber auf dem Rückweg schien sich
eine undurchdringliche, düstere Wolke auf ihn gesenkt zu haben. Zuerst dachte
sie, er wäre sauer, weil sie sich so gut mit Ginger verstanden hatte, die er
eindeutig nicht leiden konnte, aber das war es nicht. Als er endlich ins Bett
gekommen war, nachdem er eine Stunde lang im langen, schmalen Garten auf und ab
gegangen war, hatte sie sich ihm zugewandt und in seinen Augen eine seltsame
Mischung von Gefühlen gesehen: Schmerz, Furcht und etwas Unergründliches wie
Verlust. Schweigend hatte sie ihn in die Arme genommen und ihn festgehalten,
sein Kopf auf ihrer Brust, sein Körper an ihren Bauch gekuschelt, bis er
langsam und gleichmäßig atmete und sich im Schlaf abwandte.
Vielleicht hatte der Kurs ihn in Panik
versetzt. Nicht nur die schonungslose Art und Weise, wie Judith die Geburt
beschrieben hatte, sondern die Erkenntnis, daß sich ihr Leben unwiderruflich
verändern würde. Vielleicht hatte ihn erst jetzt das ungute Gefühl gepackt, das
sie schon vor Monaten ergriffen hatte, als sie eines Sonntagsmorgens zitternd
im eiskalten Bad gestanden und zugesehen hatte, wie der Schwangerschaftstest
sich vor ihren Augen eindeutig dunkelrosa verfärbte. Damals war sie plötzlich
zu Tode erschrocken gewesen, daß sie das Schicksal herausforderten, indem sie
etwas zwischen sich änderten, das so perfekt war. Sie hatte tief durchgeatmet
und die Neuigkeit ein paar Sekunden als kostbares Geheimnis gehütet. Dann war
sie ins Schlafzimmer gerannt und hatte ihn mit der Neuigkeit geweckt, und sie
hatten sich lange schweigend festgehalten, erschreckt durch das ungeheure
Ausmaß ihrer Entscheidung.
Lia griff nach der Evian-Flasche neben
der Sonnenliege. Sie nahm einen Schluck der sonnenwarmen Flüssigkeit und
spritzte sich dann etwas davon ins Gesicht. Ab und zu kam eine leichte Brise
auf und wehte Kindergeschrei und Planschgeräusche von einem nahe gelegenen
Schwimmbad in den Garten. Es war so heiß, daß sie sich, wenn sie die Augen
schloß, vorstellen konnte, wie sie damals am Strand gelegen hatte; sie konnte
den Lärm der Kinder hören, die in der Brandung spielten, und die angenehme Wärme
der späten Nachmittagssonne auf ihrem Gesicht spüren.
Sie erinnerte sich an den ersten Abend
dieser ersten Woche, wie sie engumschlungen mit ihm im Bett gelegen hatte, in
einer Art Schlick aus Schweiß und Sex, so als seien sie eine Kreatur — eine
gestrandete Krake — mit acht Gliedmaßen.
»Du weißt, daß ich dich liebe«, hatte
er plötzlich gesagt, leise, fast zu sich selbst. »Ich will für immer mit dir
zusammen sein...«
»Ja«,
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