Keine große Affäre
anzufassen
oder anzusprechen. Sie wollten nur nett sein, aber sie haßte diese
Aufdringlichkeit, und wenn man es wagte, sich dagegen aufzulehnen, bekam man
automatisch ein unsichtbares Schild, das alle anderen sehen konnten, mit der leuchtenden
Aufschrift »Hormone« um den Hals gehängt. Genausogut hätte »Blöd und Fett«
draufstehen können.
»Egal«, sagte Alison und knüllte das
Wachspapier zusammen, in dem ihr Sandwich eingewickelt gewesen war. »Ich gehe
besser zurück. Ich muß nochmal über die 101 Variationen Säuglingsmilchpräparate
nachdenken, den Testbericht über Flaschensterilisatoren neu schreiben und mir
das Design-Feature über Kinderzimmerdekoration ausdenken... Kleiner Scherz.
Mein Gott. Ramona! Das war ein Witz !«
Um sechs gab es eine kleine
improvisierte Party. Der Herausgeber öffnete ein paar Flaschen australischen
Chardonnay, rief die Redaktion in sein Büro und überreichte ihr einen
gigantischen Teddybären, der zum Einpacken viel zu groß war, mit einem Band und
einer Karte um den Hals. Dann küßten sie alle und wünschten ihr Glück. Sie
weinte fast, weil sie von soviel ungewöhnlicher Jovialität umgeben war, bis
Ramona ihr zuflüsterte: »Am nettesten sind immer die, die auf deinen Job scharf
sind, oder?«
Es fühlte sich sehr seltsam und
endgültig an, als sie ihren Schreibtisch überprüfte, sich im Computer abmeldete
und, von dem Bären abgesehen, allein den Fahrstuhl ins Erdgeschoß nahm.
Im Taxi saß er neben ihr, sein großer,
flauschiger Kopf neben ihrem, und seine braunen Knopfaugen starrten geradeaus,
genauso blind wie sie es war, wie hypnotisiert durch das seltsame Gefühl, nicht
mehr zu arbeiten und nicht mehr beurteilen zu können, was sie dabei empfand.
Erst als sie die drei kleinen Kinder auf dem Rücksitz eines Volvo wahrnahm, der
neben dem Taxi durch den Stau kroch, wurde ihr bewußt, wie komisch sie und ihr
Begleiter aussehen mußten. Sie nahm die Bärentatze und winkte ihnen damit
hoheitsvoll zu. Es war schön zu sehen, wie sich ihre Gesichter vor Überraschung
und Freude über die simple Geste aufhellten.
Stephen wartete im Flur, Aktenkoffer
und Reisetasche gepackt.
»Schön, daß ich dich noch sehe«, sagte
er. Er ignorierte den Bären, lehnte sich ungeschickt über ihn und küßte sie auf
die Wange. »Du bist spät dran.«
»Ja, sie haben eine kleine Party für
mich gegeben«, antwortete sie.
»Gut.«
»Hast du dir ein Taxi bestellt?«
fragte sie und sah hinter sich. »Du hättest meins nehmen können...
Entschuldige, daran habe ich nicht gedacht.«
»Nein, es ist eins auf dem Weg«, sagte
er und schaute auf die Uhr.
Sie fragte sich, ob er auch auf sie
gewartet hätte, um sich zu verabschieden, wenn sein Taxi vor ihrem angekommen
wäre.
»Wann geht dein Flugzeug?« fragte sie
ihn.
»Um halb zehn.«
»Massig Zeit«, versuchte sie ihn zu
beruhigen.
»Denke ich auch, wenn der Verkehr okay
ist.«
Seine Angst vorm Fliegen überraschte
sie immer wieder. Dieser Mann konnte mit völlig ruhiger Hand die Arterien eines
Menschen aufschneiden und zunähen, und trotzdem zitterte er sichtlich, wenn er
ein Flugzeug bestieg. Vielleicht lag der Grund darin, daß er wußte, wie nahe
beieinander Leben und Tod lagen.
Sie setzte den Bären unten auf die
Treppe und ging in die Küche. »Soll ich einen Tee machen?« fragte sie und ließ
das Wasser laufen.
»Nein danke, nicht für mich.« Er stand
in der Tür.
Sie wußte, daß die schroffe
Stakkatokonversation von seiner Angst herrührte, aber es ärgerte sie trotzdem.
Er flog zu einer Ärztetagung in Amerika. Eine Woche lang mit Gleichgesinnten
dinieren und angeregt diskutieren. Er konnte sich wenigstens ein bißchen darauf
freuen.
»Sir James Prospect steht kurz vor
einer Operation am offenen Herzen«, sagte Stephen, der sich bewußt war, daß er
die gähnende Leere zwischen ihnen füllen mußte.
»Ich wußte gar nicht, daß er eins
hat«, sagte Alison. »Ein Herz, meine ich.«
Stephen lachte trocken.
Dann hupte draußen ein Auto.
»Das ist mein Taxi«, sagte Stephen.
»Ja«, antwortete sie und knipste den
Schalter am Wasserkocher an.
Er ging durch die Küche und küßte sie
wieder keusch auf die Wange.
»Viel Spaß«, sagte sie mürrisch. Sie
wußte, wie häßlich ihr Selbstmitleid war, aber sie war unfähig, ihr Verhalten
zu ändern.
»Paß auf dich auf. Meine Nummern hast
du ja alle. Ich rufe an, sobald ich da bin.«
Sie folgte ihm nicht, aber als sie die
Tür ins Schloß fallen hörte, dachte sie
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