Keine große Affäre
eventuelle Schäden an den Arterien
sichtbar würden. Was danach passieren würde, wußte sie nicht. Sie nahm an, daß
sie mit dem Krankenwagen zurückkommen würden. Die Ärzte sagten alle, Anouska
hätte eine gute Überlebenschance, doch niemand schien in der Lage zu sein, mehr
zu versprechen.
Sie spürte, wie Neil neben ihr zornig
und ungeduldig wurde, und sie erkannte die Gefühle wieder, die sie am Tag zuvor
durchlebt hatte. Ungeduld, Ärger, Ohnmacht. Es war schließlich ein Krankenhaus.
Man erwartete von ihnen, daß sie es wußten. Mit ja oder nein konnte man
zurechtkommen, mit leben oder sterben, aber nicht mit dieser schrecklichen
Ungewißheit.
»Gibt es ein Heilmittel?« fragte Neil.
»Nun«, begann sie, wohl wissend, wie
frustrierend er die Antwort finden würde. Wenn früh genug Medikamente
verabreicht wurden, war eine vollständige Genesung möglich, außer daß selbst
das niemand genau wußte. Die Krankheit war erst vor ein paar Jahren entdeckt
worden, doch sie verbreitete sich immer mehr. Die Behandlung war sehr einfach.
Entweder würden die Medikamente die Krankheit stoppen oder nicht. Es war zu
früh, das zu beurteilen.
Sie fühlte Neils Arm um ihre Schultern
und versuchte nicht, ihn abzuschütteln. Sie wußte nicht, ob sie noch ein
Liebespaar waren oder Freunde, aber sie waren Eltern eines gemeinsamen Kindes.
Nichts konnte das ändern. Es würde sie für immer aneinander binden. Oder so
lange, wie ihr Baby lebte.
Kapitel 11
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Mai
Pic und Ginger schlenderten gemeinsam
durch den Glockenblumenwald und schoben abwechselnd den Buggy. Der Baldachin
der hohen Bäume schirmte sie von der grellen Frühsommersonne ab, und die Blumen
zu ihren Füßen waren so blau, daß ein blauer Dunst die Luft zu färben schien.
Das Rascheln der Blätter und der Vogelgesang wirkten wie Balsam auf ihre müden
Seelen. Hätte man nicht regelmäßig den Lärm von Flugzeugen gehört, die im
Anflug auf Heathrow waren, hätte man sich leicht vorstellen können, durch einen
Zauberwald auf dem Land zu spazieren und nicht durch die Royal Botanic Gardens,
nur fünf Meilen vom Herzen Londons entfernt.
»Hast du Charlie öfter gesehen?«
fragte Pic ihre Schwester.
»Nein. Er ruft an, aber ich will ihn
nicht sehen. Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll«, sagte Ginger mürrisch.
»Aber warum denn?« fragte Pic.
»Ach, ich weiß nicht«, antwortete
Ginger. Sie sagte keinen Ton mehr und lief ein paar Schritte vor, damit Pic ihr
Gesicht nicht sehen konnte.
Der Schmerz hatte sich unterschiedlich
auf die beiden ausgewirkt. Auf der Beerdigung hatte Pic Tränen in den Augen
gehabt, als Daddys Lieblingsstück von Bach aus der Orgel strömte und die Kirche
mit seinen Harmonien füllte, und sie hatte sich darauf konzentriert, wie wunderschön
die Musik war und wie sehr es Daddy gefallen hätte. Sie bezweifelte, daß Ginger
überhaupt etwas hörte, als sie zitternd neben ihr stand und unkontrolliert
schluchzte. Pic war die Überraschung und Besorgnis auf den Gesichtern der
Verwandten aufgefallen, als die beiden der Trauergemeinde gegenübertraten, dem
Sarg aus der Kirche folgten, und Ginger sich an ihrem Arm festklammerte. Es sah
Ginger überhaupt nicht ähnlich, hatten sie gedacht. Ginger war der Clown, der
alles mit einem Lachen wegsteckte. Pic war doch eigentlich die ernste.
Mit jeder Woche, die verging, spürte
Pic, wie ihre Trauer nachließ. Manchmal, wenn sie nach einem Gespräch mit Mummy
oder Ginger den Hörer auflegte, dachte sie, jetzt muß ich Daddy anrufen, und
dann fiel ihr ein, daß das nicht ging. Wenn sie in der Arbeit gelobt wurde,
ertappte sie sich dabei, wie sie seine Nummer wählte, bevor ihr einfiel, daß er
nicht mehr da war und sie es ihm nicht erzählen konnte. Inzwischen war in
seinem Wahlkreis die Nachwahl veranlaßt worden. Die Presse war voll
Spekulationen, und sie fragte sich oft, was er von all dem gehalten hätte. Es
war, als wäre er noch da und nur außer Reichweite. Ihr überwältigendes Gefühl
für ihn war Liebe.
Gingers Schmerz war dunkler. Er umgab
sie wie schlechte Laune, beeinträchtigte sie, machte sie unzugänglich. Seit
seinem Tod hatte Pic sie jedes Wochenende besucht. Jedesmal, wenn sie bei ihr
ankam, hoffte sie, daß Ginger mit einem Scherz auf den Lippen die Tür öffnen
und wieder die alte sein würde, aber das geschah nicht. Wenn sie lächelte,
strahlte ihr Gesicht nicht. Es war, als würde sie nur noch existieren, aber
nicht mehr richtig leben.
Ihre Beziehung
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