Keine große Affäre
hatten, während sie im Ausland
gewesen war und nichts hatte tun können, hatte sie ganz offensichtlich schwer
getroffen. Er versuchte, sich ihr feindseliges Verhalten ihm gegenüber als
Schuldübertragung zu erklären, weil sie sich unterbewußt vorstellte, was
geschehen wäre, wenn Ben während ihrer Abwesenheit krank geworden wäre.
»Die Chancen für eine völlige Genesung
sind gut«, sagte er noch einmal zu ihr. »Wirkliche Gefahr besteht nur, wenn die
Krankheit falsch diagnostiziert wird. Anouska gehört zu denen, die Glück
hatten«, fügte er hinzu und drückte im Geiste die Daumen, daß seine
Versicherungen sich bewahrheiten würden.
»Nein, sie wird nicht gesund... Ich
weiß es«, wiederholte Alison immer wieder.
Ihm fiel auf, wie sehr ihr Verhalten
Ben beunruhigte.
»Warum legst du dich nicht ein bißchen
hin?« schlug er vor, weil er Bens Kummer auf ein Minimum reduzieren wollte.
Wütend blickte sie auf und wollte
einen Streit vom Zaun brechen, als sie sah, wie er auf Bens sorgenvolles
Gesicht zeigte.
»Ich glaube, das mache ich«, stimmte
sie zu und verließ zitternd und mit hochgezogenen Schultern das Zimmer.
Pete wartete im Wohnzimmer auf Neil,
als er zu Hause ankam.
»Wo zur Hölle bist du gewesen?« fragte
Pete, als Neil durch die Tür kam.
»Paris«, sagte Neil, lud seinen
Seesack an der Tür ab und ließ sich in den Sessel plumpsen, der gegenüber dem
seines Bruders stand. »Schulausflug.«
»Es gab keinen beschissenen
Schulausflug.« Pete beugte sich vor und spuckte die Worte kalt aus. »Du
Arschloch!«
»Hör zu«, sagte Neil. »Es ist nicht,
was du denkst...« Er hielt mitten im Satz inne, weil ihm bewußt wurde, daß es
genau das war, was sein Bruder dachte. »Wo sind denn alle?« fragte er und
versuchte, Petes Blick auszuweichen. Das Schweigen, das darauf folgte, jagte
ihm doch etwas Angst ein, und er fügte hinzu: »Wieso bist du überhaupt hier?«
Als Pete anfing, über das
Kawasaki-Syndrom zu sprechen, dachte Neil ein paar verschwommene Sekunden lang,
daß es sich um einen tiefgründigen Scherz handeln mußte, den er nicht verstand,
der etwas mit seinem Motorrad zu tun hatte. Doch ein Blick ins Gesicht seines
Bruders sagte ihm, daß es nicht so war.
Nach seinem Bericht herrschte einen
Augenblick Stille. Das Telephon klingelte. Neil ging in die Küche und nahm ab.
Nichts. Er wußte, wer es war, aber alles, was ihm dazu einfiel, war, daß ihre
Taxifahrt genausolang gedauert hatte wie seine mit der U-Bahn. Er wünschte, sie
wären nie aus Paris zurückgekehrt, und dann, als British Telecom ihm die Nachricht
ins Ohr schrie: »Der Anrufer hat aufgelegt... Der Anrufer hat aufgelegt...«,
knallte er den Hörer auf, wütend darüber, daß sie ihn jemals weggelockt hatte.
»Komm, wir gehen«, sagte er zu seinem
Bruder, als er zurück ins Zimmer kam und die Autoschlüssel suchte. Dann sah er,
daß Pete sie vor seinem Gesicht baumeln ließ.
»Nein, du wäschst dir erst mal das
Gesicht«, befahl sein Bruder ihm verächtlich. »Du hast Lippenstift am Mund. Lia
hat so schon genug durchgemacht.«
Lia war überrascht darüber, daß sie
hauptsächlich Erleichterung empfand, als sie ihn sah, und dann Mitleid. Er sah
so erschöpft aus, so besorgt und reumütig, daß sie ihn am liebsten umarmt und
gesagt hätte, daß alles wieder gut würde, aber sie konnte es nicht. Sie wußte
nicht, ob es wieder gut würde. Statt dessen nahm sie ihn an der Hand und führte
ihn zu dem Bett, in dem Anouska schlief. Sie sah, daß der Herzmonitor und der
Schlauch in ihrem Fuß ihm angst machten.
»Das ist nur ein Tropf für die
Medikamente«, erklärte sie.
»Wird sie sterben?« flüsterte Neil.
»Ich glaube nicht«, sagte sie ruhig zu
ihm.
In den letzten vierundzwanzig Stunden
hatte es Momente gegeben, in denen sie sich ertappt hatte, daß sie sich ihren
Tod fast gewünscht hatte. Es war beinahe einfacher, damit leben zu müssen als
mit der täglich drohenden Gefahr eines Herzanfalls. Ein Herzanfall, mein Gott,
dabei war sie nicht einmal ein Jahr alt. Dann haßte sie sich selbst dafür, auch
nur daran gedacht zu haben.
Den Blick auf Anouska gerichtet und
unfähig, Neil anzusehen, fing Lia an, das wenige zu erklären, das sie wußte,
und während sie sprach, wurde ihr bewußt, daß sie viel mehr erfahren hatte, als
sie dachte. Am nächsten Tag würden sie mit dem Krankenwagen zur Great Ormond
Street fahren. Man würde mit Anouska etwas machen, das sich
Ultraschalluntersuchung nannte, wodurch
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