Keine große Affäre
da
da«, ahmte sie ihr Baby nach. »Und Stephen ist sehr aufgeregt, aber anscheinend
fangen sie alle damit an!«
»Wirklich?« fragte Neil. »Annie
klatscht, und sie kann zum Abschied winken«, fügte er stolz hinzu.
»Wirklich? Ben winkt noch nicht«,
sagte Alison, als der Zug in den Tunnel brauste, und dann schwiegen sie.
Neil dachte bei sich, wie ironisch es
doch war, daß ihr verbotenes Wochenende damit endete, daß sie über das Letzte
sprachen, das sie noch gemeinsam hatten: ihre beiden kleinen Kinder.
Am Waterloo-Bahnhof angekommen, trug
er ihren schicken Koffer bis zum Ende des Bahnsteigs und stellte ihn dort ab.
»Ich nehme mir ein Taxi«, sagte sie.
»Ich würde dich ja mitnehmen, aber...«
»Nein. Ich fahre mit der U-Bahn«,
sagte er.
Sie standen dort und sahen sich lange
an. Dann machte er einen Schritt nach vorn, nahm sie in die Arme und küßte sie.
Es war ein Kuß voll Bedauern, Verlangen und Nostalgie, und als sie sich
schließlich voneinander trennten, spürte er, daß sie sich große Mühe gab, nicht
zu weinen.
»Tschüs dann.« Er nahm seinen Seesack
und wandte sich ab.
Alison blieb stehen und sah ihm nach.
Dann atmete sie tief durch. Ihre Augen waren so voller Tränen, daß ihr die
ältere Dame mit dem Baby auf dem Arm, die auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten
blickte, gar nicht auffiel. Genausowenig wie Ginger, die ihr ungläubig nachsah,
als sie direkt an ihnen vorbei auf das Schild zuging, auf dem »Taxis« stand.
Stephen und Ben saßen nebeneinander am
Tisch und aßen zu Abend, als Alison in die Küche kam. Sie küßte sie beide auf
den Scheitel und setzte sich ihnen gegenüber. Sie stocherte ein wenig in der
Pasta herum, die er gekocht hatte. Dann nahm sie sich einen Teller voll und
stopfte sie sich mit Heißhunger in den Mund.
»Ich muß zugeben, daß ich einen
Wahnsinnskater habe, und völlig ausgehungert bin ich auch«, sagte sie. »Das
schmeckt köstlich!«
Stephen lächelte sie an. Er hatte
schon immer gefunden, daß es ihr stand, wenn sie verkatert war. Sie sah dann
etwas unordentlich und zerzaust aus. Sie war ganz offensichtlich müde, doch sie
sprühte vor Leben, als wäre sie noch immer high von dem Champagner, den sie am
vorigen Tag auf John Fabrizio Jones’ schicker Party getrunken hatte, wie sie
ihm erzählte.
»Was habt ihr denn so angestellt?«
fragte sie ihn mit vollem Mund.
»Na ja, man könnte sagen, du hast dir
für deine Reise ein gutes Wochenende ausgesucht«, antwortete er mit einem
kleinen, trockenen Lachen.
Er hätte nicht im Traum gedacht, daß
die Nachricht über Gingers Vater und Lias Kind ihre Laune auf so dramatische
Art und Weise beeinflussen würde. Ihr fiel die Gabel aus der Hand, und sie
wurde vor Schreck kreidebleich. Einen Augenblick lang dachte er, sie würde
ohnmächtig.
»Er wäre in einem Jahr siebzig
geworden, und das ist nicht schlecht für jemanden, der getrunken und geraucht
hat...«, fing er an.
»Ach, der ist mir doch egal«,
unterbrach Alison ihn so wütend, daß Stephen völlig perplex war.
»Natürlich«, sagte er. »Ich weiß nur
nicht, was ich dir über das Baby sagen soll. Es ist absolut möglich, daß es
sich wieder vollkommen erholt«, erklärte er, während Alison dort saß, ihn
anstarrte und nickte, weil sie hören wollte, daß alles gut würde. »Aber es
besteht die Gefahr, daß ganz plötzlich der Tod eintritt...« Er bemühte sich,
eine ausgewogene, jedoch realistische Beurteilung der Gefahren abzugeben, aber
Alison hörte ganz offensichtlich nichts von dem, was er sagte.
Sie sprang auf, rannte zum Telephon,
nahm den Hörer ab, wählte eine Nummer, legte wieder auf, rannte zurück zum
Küchentisch, nahm Ben von seinem hohen Kinderstuhl, umarmte ihn fest und
streichelte seinen Hinterkopf. Als sie ihn wieder auf seinen Stuhl setzte, war
ihre schicke, schwarze Jacke mit Baby Organix vegetarischer Pasta verschmiert.
Sie nahm Stephen ins Kreuzverhör, als
ob es seine Schuld wäre. Hätte die Krankheit früher erkannt werden können?
Wieso war er sich so unsicher über die Prognose? Erhielt Anouska die
bestmögliche Behandlung? Könnte man mit Geld eine sachverständigere Meinung
hören?
Das war die Art Fragen, die er von
nahen Verwandten gewöhnt war, die einen Sündenbock brauchten und unbedingt vom
Arzt hören wollten, daß es nicht ihre Schuld war. Er wünschte, er hätte ihr die
Neuigkeiten behutsamer mitgeteilt. Der Schock, gleich von zwei Tragödien zu erfahren,
die sich im nahen Bekanntenkreis abgespielt
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