Keine Lady ohne Tadel
beschlossen, seine Augen zu öffnen. Esme drückte es fester an sich. »Hallo«, flüsterte sie. »Hallo, mein Kleiner.« Er blinzelte und presste den Mund zu. Seine Augen waren dunkelblau wie der Himmel am frühen Morgen, und er schaute ernst zu Esme auf, als präge er sich ihr Gesicht ein. »Ich weiß, dass du zu lächeln glaubst«, flüsterte Esme und küsste ihn auf seine Nase und seine Stirn und seine dicken Bäckchen. »Du hast nur vergessen, wie man das macht, nicht wahr, mein süßer William?«
»Sie wollen ihn William nennen?«, fragte Lady Bonnington. »Ich nehme an, dies ist ein alter Name in Lord Rawlings’ Familie … sein Vater«, sagte sie erklärend zu dem Kindermädchen, das sie verständnislos anstarrte.
William hatte wunderbare, ernste Augen, die Esme ein Versprechen abnahmen: das Versprechen, dass sie ihn ernähren und beschützen würde. Viele Jahre lang. Mit einem Mal überkam sie eiskalte Furcht. Benjamin, ihr kleiner Bruder, war gestorben. Natürlich musste das nicht mit William passieren, aber er war so klein und zart. Er krauste das Näschen, als eine Träne auf seine Wange tropfte.
»Was hast du, Darling?«, fragte Arabella. »Oh nein, das Baby wird nass! Soll ich ihn mal nehmen?«
»Er ist das hübscheste Baby, das ich je gesehen habe«, schluchzte Esme, die vor Weinen einen Schluckauf bekommen hatte. »Ich lie-liebe ihn so sehr. Aber er ist so klein! Was ist, wenn ihm etwas zustößt? Das könnte ich nicht ertragen!«
»Das ist eine dieser Reaktionen auf die Geburt«, erklärte Lady Bonnington. »Das geht manchen Frauen so. Meine Cousine zweiten Grades ist nach der Geburt ihrer Tochter melancholisch geworden. Dabei wäre die Existenz ihres Ehemannes schon Grund genug gewesen.«
Esme schluckte und trocknete sich die Augen mit einem Zipfel ihres Bettlakens ab. »Er hat Miles’ Augen«, sagte sie zu Arabella. »Siehst du?« Sie drehte das Baby zu Arabella hin. »Sie haben denselben freundlichen Ausdruck wie die Augen von Miles. Und sie sind ebenso blau. Und Miles ist tot!«
»Aber sein Sohn lebt«, sagte Arabella und lächelte sie ermutigend an. »William ist ein hübscher, stämmiger Junge, ein Bild der Gesundheit!«
»Richtig!«, meldete sich Lady Bonnington. »Ich wusste gleich, dass das Kind das Ebenbild Ihres Mannes ist.«
Arabella warf ihr einen Blick tiefster Missbilligung zu. »Warum überbringst du die frohe Botschaft nicht deinem Sohn, Honoratia?«
»Das tue ich«, sagte die Marquise. »Und darf ich sagen, Lady Rawlings, dass ich beeindruckt bin von der Art, in der Sie diese überaus delikate Angelegenheit bewältigt haben?«
Ob Lady Bonnington damit die Geburt meinte oder die Tatsache, dass Esme, ohne zu zögern, Miles als Vater des Kindes benannt hatte, war nicht zu entscheiden. Mrs Pluck nahm Esme das Baby ab, das sogleich wieder zu greinen begann.
»Er will bei mir sein«, sagte Esme und mühte sich wiederum in eine aufrechte Haltung.
»Er hat eine schöne, kräftige Stimme«, urteilte Mrs Pluck und übergab das Kind der Amme. »Aber die Natur muss jetzt ihren Lauf nehmen«, fuhr sie ein wenig nebelhaft fort.
Helene war nun auch hereingekommen und starrte das Baby an, das von der Amme in eine vorgewärmte Decke gehüllt wurde. »Oh, Esme, er ist einfach entzückend!«
»Kommt er Ihnen gesund vor?«, wandte sich Esme an die Amme.
»So gesund und rund wie ein Saugferkel«, lautete die Antwort. »Wollen wir mal sehen, ob er sein Frühstück haben will?«
Sie setzte sich und zog den Ausschnitt ihres Kleides hinunter. William wandte sich der Amme zu und stieß einen leisen Grunzlaut aus. Seine großen blauen Augen blickten sie an. Esme kam es so vor, als schenke er der Frau denselben ernsten Blick wie ihr.
Weiß glühende Eifersucht wallte in ihr auf. Er war ihr Baby, ihr süßer kleiner William. »Geben Sie ihn mir!«, befahl sie herrisch.
Verwirrt schaute die Amme auf. Sie hatte Williams Köpfchen zurechtgerückt und wollte ihn gerade anlegen.
»Wagen Sie es ja nicht, mein Kind zu stillen!« Esme hatte die Hände instinktiv zu Fäusten geballt. »Geben Sie mir William! Sofort!«
»Aber du meine Güte«, wandte die Amme ein. »Dafür haben Sie mich doch angestellt, Mylady.«
»Ich habe es mir anders überlegt!«, fauchte Esme. Sie würde nicht zulassen, dass William eine andere Frau für seine Mutter hielt. Sie würde alles für ihn tun, was nötig war, und das Stillen gehörte dazu.
Die Amme schmollte, reichte das Kind jedoch herüber. »So leicht geht das
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