Keine Lady ohne Tadel
ich gar nichts von dir.«
Sie starrte vor sich hin und sah die spitzen Hörner der Ziege durch einen Tränenschleier. »Ich wünschte, alles wäre anders«, murmelte sie. »Ich wünschte, ich wäre nicht ich oder ich wäre –«
»Nein! Du verstehst nicht. Ich will dich – mit deinem angemalten Gesicht, mit deinen sinnlichen Blicken, mit deinen sündhaften Gedichten. Ich will dich so, wie du bist, Bea.«
Vermutlich lag es an der Erfahrung mit ihrem Vater, dass sie ihm keinen Augenblick Glauben schenkte.
Bea räusperte sich. »Das ist wirklich zu gütig. Ich fühle mich geehrt. Vielleicht noch mehr, wenn Sie nicht bereits eine Verlobte hätten. Aber ich weiß Ihre Bereitschaft, mich auf die Liste zu setzen, durchaus zu schätzen.«
»Lass das!« Seine Stimme hatte die Geschmeidigkeit des Politikers verloren. »Fühle dich nicht geehrt!«, fuhr er heftig fort. »Heirate mich!«
»Das kann ich nicht, Stephen.« Sie drehte sich zu ihm um und hob stolz den Kopf. »Dazu liebe ich dich zu sehr. Im Augenblick mag dir nichts an deiner Arbeit liegen, aber in wenigen Monaten wirst du sie vermissen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du deine Tage mit Angeln und Wilddieben verbringst, Stephen. Nach einem Monat oder vielleicht einem Jahr würdest du deine Stellung vermissen. Aber du würdest sie nie wieder bekommen. Nicht nach einer Heirat mit mir.«
»Der Meinung bin ich durchaus nicht, Bea. Ich könnte dich heiraten und dennoch im Parlament bleiben. Aber ich will mein Amt niederlegen. Wenn ich mich auf dem Land langweile, werde ich eine Beschäftigung finden. Aber mit dem Parlament bin ich fertig. Ich will nie wieder auf Stimmenfang gehen. Ich möchte lieber nur noch an dich denken.«
»Geh!«, sagte sie brüsk und hielt sich mit aller Kraft an dem splitterigen Gatter fest. »Geh einfach, Stephen.«
Sein Lächeln war wie weggewischt.
»Bitte geh«, flüsterte sie.
32
Mutterliebe. Zweiter Teil
Esmes Mutter traf an einem schönen Frühlingstag eine Woche nach der Geburt ihres Enkels ein. Esme schaute aus dem Fenster und sah eine hässliche Kutsche die Einbiegung zu Shantill House nehmen. Sie bewahrte eine ungute Erinnerung an das Gefährt, das die Familie zu Fahrten nach London benutzt hatte. Die Sitze waren mit Rosshaar gepolstert und neigten sich nach vorn. Als Kind war Esme oft auf den Kutschenboden gerutscht und für ihre Zappelei gescholten worden.
William lag schlummernd in ihrem Arm. Seine langen Wimpern beschatteten seine Wangen. »Dir werde ich niemals so lange Kutschfahrten zumuten«, flüsterte sie ihm zu. Doch nach kurzer Überlegung änderte sie ihr Versprechen ab. »Vielleicht doch, aber nur mit vielen Pausen.«
Sie wandte sich vom Fenster ab und läutete. »Meine Mutter ist angekommen«, sagte sie zu Jeannie. »Ich muss mich umziehen. Ich nehme das graue Morgenkleid mit dem weißen Spitzenbesatz und der leichten Stola. Und dazu werde ich ein Häubchen tragen, am besten mit einer silbernen Schleife, damit es farblich passend ist.«
Jeannie starrte ihre Herrin erstaunt an. »Aber Madam, das ist ein Kleid für die Halbtrauer und außerdem viel zu warm für diese Jahreszeit. Wollen Sie nicht etwas Fröhlicheres tragen? Ihre Mutter möchte doch sicher, dass Sie fröhlich sind. Außerdem haben wir gar keine Silberschleifen im Haus!«
»Nein, nein, das graue Kleid ist hervorragend«, wehrte Esme ab. Fanny hatte nach dem Tod ihres Mannes volle zwei Jahre Trauer getragen. Da konnte sie sich immerhin einen tugendhaften Anschein geben.
»Soll ich Master William in die Kinderstube bringen?«, fragte Jeannie, als Esme das Kleid angezogen hatte, dazu das Spitzenhäubchen, jedoch ohne Silberschleife.
»Ich nehme ihn mit nach unten. Meine Mutter brennt gewiss schon darauf, ihren Enkel zu sehen.«
»Oh ja, das ist wahr! Und er ist ja auch der hübscheste Knabe, den die Welt je gesehen hat. Wahrscheinlich wird sie vor Freude weinen. Meine Mutter würde das jedenfalls tun.«
Als Esme den Morgensalon betrat, fand sie ihre Mutter, die Marquise Bonnington und Arabella vor. Bea war zu ihrer ungeheuren Erleichterung nicht dabei. Esme hegte nämlich die heimliche Befürchtung, dass ihre Mutter sich durch die Anwesenheit von Arabellas
dame de compagnie
gekränkt fühlen und unverzüglich wieder abreisen würde.
Sie sah sofort, dass Fanny und Arabella sich in die Haare geraten waren. Die Schwestern saßen einander gegenüber, und Arabella trug die befriedigte Miene eines Menschen zur Schau, der einen Rüffel
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