Keine Pizza für Commissario Luciani
merkwürdigem Widerspruch zur Brutalität |335| seines Zwecks. Marco Luciani hatte schon einige Strafvollzugsanstalten gesehen, aber diese hier war wirklich einzigartig.
Der Stein vermittelte ein Gefühl von Endgültigkeit der Strafe, und angesichts der drei übereinanderliegenden Zellenreihen
dachte Luciani nun nicht mehr an die Logenränge eines Theaters, sondern an die Dante’schen Höllenkreise.
»Das Erdgeschoss nannte man auch tatsächlich die Hölle«, sagte der Buchhändler lächelnd. »Die beiden anderen waren Fegefeuer
und Paradies. Selbst an einem Ort wie diesem muss man den Menschen die Hoffnung auf Besserung ihrer Lage, auf einen möglichen
Aufstieg lassen.«
Von wegen Paradies, dachte Marco Luciani, der sich umblickte und ein leichtes Schwindelgefühl spürte. Auch im obersten Stock
mussten Hitze und Gestank infernalisch gewesen sein, und die trichterförmigen Oberlichter verhinderten, dass die Häftlinge
sich mit dem Anblick des Meeres trösten konnten.
»In jeder Zelle lebten zwei Gefangene«, erklärte der Buchhändler weiter, »eigentlich waren die Räume anfangs doppelt so groß,
vier auf viereinhalb Meter, aber dann wurden alle noch einmal geteilt.«
Die Eingänge der Zellen waren für ihn zu niedrig, der Kommissar musste sich jedes Mal niederbeugen, um einzutreten. Egal in
welcher Zelle er stand, vor sich sah er immer den Rundbau der Kapelle aufragen, die man in die Mitte des Innenhofes gebaut
und ebenfalls durch eine kreisförmige, mehrere Meter hohe Mauer gesichert hatte. Der Innenhof war in Sektionen geteilt, in
denen die Gefangenen ihren Hofgang machen konnten.
»Dies war das Auge Gottes, das alles sieht«, sagte sein Führer und zeigte lächelnd auf die Kapelle. »Man fühlte sich rund
um die Uhr unter Beobachtung, jeden Tag des Jahres, jedes Jahr, das man abzusitzen hatte. Und die Theaterakustik |336| sorgte dafür, dass alle alles hören konnten. Dagegen ist ›Big Brother‹ Kinderkram.«
Marco Luciani schaute sich alles haargenau an, prägte sich jedes Detail ein. Die doppelten Zellentüren, die aus einem Metallgitter
bestanden und einer inzwischen verrosteten Eisentür davor. Die Eisenpritschen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Graffiti
auf den Wänden. Sein Job war es, böse Menschen an solche Orte zu verfrachten, und er hatte keinen Zweifel, dass dies gerecht
und angebracht war. Trotzdem, jedes Mal wenn er ein Gefängnis betrat, selbst ein verlassenes wie das auf Santo Stefano, dann
drängten sich ihm Fragen auf. Und die wichtigste war: Gab es ein Gefängnis, das wirklich seine drei Hauptaufgaben erfüllte?
Nämlich, demjenigen Genugtuung zu verschaffen, dem ein Leid zugefügt worden war, Sicherheit für die Gesellschaft zu garantieren
und dafür zu sorgen, dass derjenige, der sich vergangen hatte, seinen Fehler einsah und sich eines Besseren besann? Seine
Erfahrung sagte ihm, dass Punkt eins systematisch missachtet wurde. Die Angehörigen der Opfer wie die Opfer selbst hatten
keinerlei Rechte. Sie hatten kein Mitspracherecht beim Strafmaß, und oft galt das ganze Mitgefühl von Medien und Behörden
den Mördern statt den Opfern. Punkt zwei war schlichtweg utopisch, denn die Gesellschaft trug die Keime der Unsicherheit in
sich selbst, sie züchtete sie im Labor, sie ließ sie gedeihen, um die Menschen in ständiger Alarmbereitschaft zu halten und
besser kontrollieren zu können. Die Gesellschaft produzierte also weiterhin schneller Verbrecher, als die Polizeiorgane sie
dingfest machen konnten. Derselbe Mechanismus, der für die Konsumgüter galt. Was Punkt drei anging, die Resozialisierung der
Häftlinge – die Statistiken sagten, dass achtzig Prozent aller Straftaten von Tätern begangen wurden, die bereits Vorstrafen
hatten, und damit war dieses Thema erledigt.
|337| Sie beendeten den Rundgang durch das Gefängnis, stiegen über die Absperrungen der Baustelle und die von den Arbeitern zurückgelassenen
Werkzeuge und kehrten zum Eingang zurück. Der Buchhändler zeigte auf eine Wand: »Wissen Sie, was am Gefängnistor steht?
› Donec sancta Themis scelerum tot monstra catenis/ victa tenet, stat res, stat tibi tuta domus
.‹«
»Ich muss zugeben, dass mein Latein ein bisschen eingerostet ist«, sagte Marco Luciani und verzog das Gesicht. »Bei meiner
Arbeit brauche ich es eher selten.«
»Solange die Gerechtigkeit diese ruchlosen Verbrecher in Ketten hält, sind dein Haus und dein Besitz in Sicherheit. Was sagen
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