Keine Pizza für Commissario Luciani
Gerechtigkeit anrufen? Niemanden. Wenn der Staat seinen Bürgern die Gerechtigkeit verweigert, dann kann man
sie sich nur noch selbst verschaffen.«
Marco Luciani dachte an den Barbesitzer von Rozzano. »Da beißt die Maus keinen Faden ab«, lächelte er. »Wollen wir ein Gebet
für ihn sprechen?«
|340| Der Buchhändler schaute ihn überrascht an. Ob der Kommissar ihn auf den Arm nahm?
»Sagen Sie nicht, ich bin an einen anarchistischen Polizisten geraten.«
»Wir wollen mal nicht übertreiben. Ich stehe gern auf der Seite der Guten und auf Seiten des Gesetzes. Manchmal fallen die
beiden Dinge aber nicht zusammen. Und dann stehe ich, wenn ich wirklich wählen muss, lieber auf der Seite der Guten.«
Nach einigen Sekunden des Schweigens bekreuzigte sich der Buchhändler, legte die Hand auf eines der anonymen Gräber und sagte
leise: »Schenke ihm die ewige Ruhe, o Herr, und das ewige Licht leuchte ihm. Lass ihn ruhen in Frieden, amen.«
»Amen«, erwiderte Marco Luciani. Sollte der Monarch in der Hölle schmoren.
|341| Achtundfünfzig
Ventotene, 29. Dezember
Giuseppe Risso, genannt Marietto, hatte sich hinten in die Kirche gesetzt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Dies schien
ihm der beste Ort, um nicht aufzufallen, während er den Einbruch der Dunkelheit abwartete. Er betete nicht, aber er betrachtete
das Kreuz und dachte an die vielen armen Christensöhne, die er in seinem Leben getroffen hatte, an die Friedensprediger, die
verfolgt und getötet worden waren, und an die, die man als gefährliche Revoluzzer oder Terroristen hingestellt hatte. Wer
Macht hat, ist ein Ungeheuer. Die Macht an sich ist ein Ungeheuer. Er spürte, dass das Ende seines Abenteuers nahe war, das
bestätigten ihm die mitleidigen Blicke, mit denen der Gekreuzigte ihn bedachte. Gern hätte er geglaubt, dass ihn im Jenseits
irgendetwas erwartete, aber das Geschenk des Glaubens war ihm nie zuteilgeworden, und das bedauerte er nicht, denn er hatte
dafür eine andere, konkretere und menschlichere Wahrheit gefunden. Im Grunde war auch ihm ein Prophet erschienen, der ihm
den Weg gewiesen hatte, und eine Göttin hatte ihn mit ihrem Blick auf immer verändert.
Er dachte wieder an Mario Martone zurück. Mario, der, kaum war die Tätowierung fertig, die noch feuchte Nadel hinlegte, sich
eine Zigarette anzündete, sie Giuseppe reichte und eine weitere für sich selbst ansteckte. Nach drei tiefen Zügen rang er
sich endlich durch, ihm sein Geheimnis anzuvertrauen. Im Gefängnis von Santo Stefano hatte es früher ein kleines Museum gegeben,
mit Dingen, die den illustren |342| Gästen des Zuchthauses gehört hatten. In diesem Museum wurden auch Uniform und Kappe von Gaetano Bresci aufbewahrt. Häftlingsnummer
515. »Mich störte das nicht«, sagte er, »es schien mir eine Art, seiner zu gedenken, für andere Häftlinge war aber diese Zurschaustellung
der Trophäen eine Beleidigung, als wollte man den Skalp des getöteten Feindes ausstellen. Andere wussten nicht einmal, wer
Bresci gewesen war, denen war es egal. Während des letzten Aufstandes brachen die Gefangenen in das Museum ein und verwüsteten
alles. Sie legten Feuer und zerstörten es. Ich kam nicht rechtzeitig, um noch die Uniform zu retten, aber die Kappe konnte
ich an mich nehmen, und bevor die Wärter zurückkamen, versteckte ich sie an einem sicheren Ort.«
Giuseppe hatte sich aufmerksam die Beschreibung angehört, wie man zu dem Versteck gelangte, und am Ende fragte er: »Warum
hast du mir das gesagt?«
»Weil ich möchte, dass du sie holst. Und damit machst, was du für richtig hältst.«
Giuseppe schwieg eine Weile. »Und warum sagst du es mir jetzt?«
Von Mario kam keine Antwort. Sie kam erst ein paar Tage später, als der diensthabende Wärter ihn beim Weckruf reglos auf der
Pritsche fand, auf dem Gesicht ein entspanntes Lächeln. Er war im Schlaf gestorben, wahrscheinlich ohne zu leiden. Er hatte
gewusst, dass es mit ihm zu Ende ging, und hatte es noch geschafft, den Staffelstab weiterzugeben, sein Geheimnis zu teilen.
Giuseppe Risso bekam die Erlaubnis, ihn mit Hilfe einiger Gefangener persönlich zu bestatten. Er hob die Grube neben dem Gipfelpfad
der Insel aus, damit Mario immer das Meer sehen konnte.
Wenige Monate später setzte die Flucht zweier Freigänger dem Traum von einem menschlicheren Strafvollzug ein |343| Ende. Auch wenn die beiden wieder eingefangen wurden – in Rom hatten viele auf einen
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