Keine Vergebung: Kriminalroman (German Edition)
das Glas abzusetzen, schwappte Wasser auf Kertschs Schreibtisch. Grewe durchsuchte Jackett und Hose nach einem Taschentuch und hustete sich dabei die Seele aus dem Leib.
»Meine Güte, soll ich …?« Kertsch deutete ein Rückenklopfen an. Grewe hatte ein Tuch gefunden und schüttelte, immer noch hustend, den Kopf. Er wischte das Wasser weg, bekam endlich wieder Luft, und sein Husten wurde flacher, hörte auf.
»Entschuldigung.«
Kertsch machte eine abwehrende Geste.
»Nein, nein. Ich bin froh, dass Sie noch leben.« Er lächelte, Grewes Erwiderung geriet zu einem unentschlossenen Mundverziehen, dann verlor sich sein Blick auf Kertschs Schreibtisch.
Der Leiter der Kriminalpolizeiinspektion schlug leicht mit beiden Händen auf die Tischplatte und zog scharf die Luft ein.
»Tja, lieber Herr Grewe. Nun ist es also so weit.«
Grewe sah seinen Chef unglücklich an.
»Ja.«
Kertsch schaute zur Decke, sammelte sich, dann sprach er entschlossen zu Grewe.
»Wir müssen das nicht noch mal alles durchnehmen. Ihre Entscheidung ist schon vor einiger Zeit gefallen, und Sie sollen sich jetzt auch nicht grämen.«
Grewe nickte.
»Heute ist mein letzter Tag im Amt, ab morgen bin ich nur noch für den Übergang hier, und nur so lange, wie es mein Nachfolger wünscht.« Kertsch schob den Aktenstapel auf dem Tisch zusammen, richtete ihn neu aus, ganz beiläufig. »Kriminalrat Steffen Kindler ist trotz seiner nur einundvierzig Jahre ein recht erfahrener Polizeiführer. Er ist schnell, gewandt und entscheidungsfreudig. Im LKA Baden-Württemberg hatte er in den letzten Jahren Leitungsfunktionen, zuletzt in der Führungsgruppe Einsatz- und Ermittlungsunterstützung.«
Grewe zog eine Augenbraue hoch.
Kertsch hob beide Hände. »Ich weiß, das klingt nach oberschlauem Sesselpupser. Aber Kindler hat eine ordentliche Ermittlerlaufbahn durch gewichtige Sachgebiete hingelegt, auch Mord und Totschlag. Hiltrup hat er vor fünf Jahren abgeschlossen. Es ging flott voran, zugegeben, und das lässt durchaus auf Karriereplanung schließen. Aber er ist ein fähiger Mann. Vielleicht tut so ein frischer Wind der Dienststelle gut. Ich bin doch ein altmodischer Knochen, Herr Grewe.« Kertsch lachte. Grewe schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie altmodisch sind, dann bin ich prähistorisch.« Kertsch wollte unterbrechen, aber Grewe hob die Hand. »Selbstverständlich kann Ihr Nachfolger auf meine Unterstützung zählen. Wir haben eine klare Hierarchie.«
»Aber? Ich weiß, da ist ein Aber, Herr Grewe.«
Sie sahen sich an. Grewe blies geräuschvoll Luft aus.
»Wir können beide aus dieser Karriere und ihrem Tempo herauslesen, was für ein Typ Polizist das ist.« Grewe sah Kertsch direkt in die Augen. Der hielt den Blick, doch Grewe konnte eine Bitte darin sehen. Plötzlich schämte er sich. Er hatte kein Recht, an dieser Berufung herumzukritteln. Denn Kertschs Stuhl hätte seiner sein können. Das war Kertschs Wunsch gewesen und auch der der meisten Kollegen. Und obwohl es eigentlich üblich war, auf solche Führungsposten Leute von außerhalb zu setzen, um Befangenheiten und Unterordnungsprobleme zu vermeiden, war von oben kommuniziert worden, dass Grewe exzellente Chancen hatte. Und Grewe hatte auch zunächst eingewilligt. Seine Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar war in Rekordgeschwindigkeit durchgegangen, so konnte er auch ohne Studium an der Hochschule der Polizei in Hiltrup Leiter werden. Eine absolute Ausnahmeregelung.
Dann hatte er kalte Füße gekriegt. Aus tausend Gründen, für die es tausend Gegenargumente gab, und so war ihm am Ende nur eine Diagnose geblieben: Er war zu feige. Punkt.
»Entschuldigen Sie, Herr Kertsch. Das war … unpassend.«
Kertsch wischte die gedrückte Stimmung mit einer Handbewegung aus der Luft.
»Ich weiß, dass Sie loyal sind. Meine Güte, das Wort könnte für Sie erfunden sein, mein Lieber. Was auch immer an ihm zu kritisieren sein mag – Kindler ist ohne Zweifel ein bestens qualifizierter Dienststellenleiter. Die Soft Skills sind doch immer eine Frage der Erfahrung. Und die haben Sie.« Kertsch wies mit beiden Händen auf Grewe. »Stellen Sie sie Herrn Kindler zur Verfügung, das ist mein großes Herzensanliegen. Sie kennen jeden Kriminalbeamten in- und auswendig. Stärken und Schwächen. Helfen Sie meinem Nachfolger, nicht nur erfolgreich, sondern – insbesondere was die Personalführung angeht – wirklich gut zu sein.«
Grewe schluckte. Er durfte nicht daran denken, was es alles an
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