Keine Vergebung: Kriminalroman (German Edition)
hat meiner Meinung nach durchs Fahrerfenster ins Kfz geguckt.«
Grewe und Kertsch nickten. Es war eine Verkehrskontrolle gewesen. Routine. Es war jedem hier klar, wie man als Polizist so etwas machte. Bernie hatte tausendmal in seinem Leben Fahrzeuge kontrolliert. Und heute zum letzten Mal.
»Bei Kim ging der Schuss glatt durch. Diese Munition muss deutlich mehr Durchschlag gehabt haben. Vielleicht sogar eine Neunmillimeter oder so was. Also ziemlich sicher zwei Tatwaffen und also auch wahrscheinlich zwei Täter.«
Grewe blies laut Luft aus. »Aber kein Projektil, keine Hülse? Von dem Schuss auf Kim, meine ich.«
Drossel schüttelte den Kopf. Grewes Blick flackerte über den Tatort. »Die schießen auf zwei Polizeibeamte, steigen aus, sammeln die Geschossteile ein, stehlen eine Dienstwaffe und fahren dann erst weg?«
Drossel sah in dieselbe Richtung wie Grewe. »So sieht es zumindest aus.«
Die drei Männer schwiegen eine Weile. Hin und wieder schüttelte einer den Kopf oder atmete hörbar. Dann entfernte sich Grewe ein paar Schritte, schloss für einen Moment die Augen, ging wieder zu Kertsch und Drossel.
»Wie sollen die Familien denn mit so was umgehen?« Seine Stimme fand keinen Halt. »Was sollen wir denen denn jetzt sagen?«
Evelyn Glaubke sah starr aus dem Wohnzimmerfenster in den Garten. Grewe wusste nicht, welchen Zustand er am schlimmsten fand. Als sie manisch Kaffee gekocht und irgendwelchen Knabberkram auf den Tisch gehäuft hatte? Als sie einen Keks in den Fingern zerbröselt und immer nur »Nein, nein, nein« gestammelt hatte? Als ihr die Kaffeekanne aus den Händen gerutscht war und sie plötzlich hysterisch zu schreien anfing? Als sie brüllend auf Grewe eingeschlagen hatte? Als sie von konvulsivischem Schluchzen auf die Knie gezwungen wurde und sich mit lautem Weinen an den Boden gepresst hatte?
Oder diese Stille jetzt?
Evelyn flüsterte etwas. Grewe beugte sich vor.
»Die guten Jahre …«, wisperte sie. Immer wieder. »Die guten Jahre, die guten Jahre.« Plötzlich sah sie Grewe an. »Das hat er in letzter Zeit dauernd gesagt: Schatz, das sind unsere guten Jahre, wir sind mittendrin.« Ihr Gesicht zerfiel zu einer Schmerzensmaske. Grewe weinte, sie nahmen sich in den Arm, krallten sich ineinander.
Nach einer Weile bemerkte Grewe, dass Kertsch wieder das Wohnzimmer betreten hatte, in der Hand sein Mobiltelefon. Er hielt es, als hätte er vergessen, dass es da war. Sein Blick lag fast flehend auf Grewe, sein Mund stand leicht offen, er atmete schwer. Grewe wusste sofort Bescheid. Er schüttelte sanft, fast unmerklich den Kopf und streichelte Evelyns Rücken. Er hätte gerne seine Augen geschlossen, sich ausgeruht, aber er fürchtete die Bilder von Notärzten, die ihre Gummihandschuhe auszogen, Schwestern, die Schläuche aus Kims Körper zogen und Geräte ausschalteten. Sie konnten Evelyns Schmerz nicht auch noch diese Nachricht hinzufügen.
Nach einer Unendlichkeit klingelte es an der Tür. Bernies Schwester war gekommen, um die Wache zu übernehmen. Grewe schlafwandelte nach draußen, wo Kertsch schon am Wagen wartete. Sie waren Verdammte. Ihr Fluch war, durch ein Meer aus schwarzen Tüchern zu segeln und Kummer und Gram in der Welt zu verbreiten.
4
S o eine Scheiße.«
Sie hatte den Wagen in ein Parkhaus gefahren, ein Riesending. Es füllte sich gerade mit städtischen Angestellten; wer fing schon sonst so früh an, in der City zu arbeiten? Bald würden die Ladenbesitzer und ihr Personal kommen und dann die Muttis zum Einkaufen.
»Scheiße, echt. So ein Dreck.« Er schüttelte wieder und wieder den Kopf.
Sie steckte den Autoschlüssel in die Jackentasche und schloss die Augen. Klar, es war beschissen gewesen. Überbeschissen. Aber Männer waren immer schwächer, als sie dachten, das war ihr schon lange klar.
Sie sah ihn an. Er war so jung. Kaum dreißig. Sie war nicht älter, und sie war auch nicht länger dabei, aber sie kam sich viel erwachsener vor, tougher. Und das war sie auch.
Er vermied ihren Blick. An dem Punkt waren sie schon öfter gewesen, er hatte ein bisschen Schiss vor ihrer Reaktion. Nein, vor ihrer Missachtung. Ihre Zuwendung war ihm wichtig.
Sie waren kein Paar, kein Liebespaar, sie wussten beide, dass das unprofessionell wäre. Aber trotzdem ging es immer auch um das. Weil sie jung waren und hart, weil es im normalen Leben kaum Altersgenossen gab, die verstehen würden, was sie machten.
Sie verbrachten viel Zeit miteinander, fast ihr ganzes Leben eigentlich.
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