Keine zweite Chance
lange Spuren auf dem Kiefernnadelteppich.
Während wir die Route 87 entlangrasten, erzählte ich Regan und Tickner von der Hütte. Tickner setzte sich über Funk mit dem Polizeirevier in Montague in Verbindung. Ich wusste noch, wie man zur Hütte kam, konnte den Weg aber nicht genau beschreiben. Ich tat mein Bestes. Regan trat das Gaspedal weiter durch.
Es war halb fünf Uhr morgens. Die Straßen waren leer. Die Sirene brauchten wir nicht. Wir erreichten Ausfahrt 16 des New York Thruway und rasten am Woodbury Common Outlet Center vorbei.
Der Wald verschwamm hinter den Scheiben. Es war nicht mehr weit. Ich sagte Regan, wo er abbiegen sollte. Der Wagen kurvte Seitenstraßen entlang, die sich seit drei Jahrzehnten kein bisschen verändert hatten.
Eine Viertelstunde später waren wir da.
Stacy.
Meine Schwester war nie besonders hübsch gewesen. Das war vielleicht Teil ihres Problems. Ja, das klingt unsinnig. Eigentlich
ist es auch absurd. Ich erkläre es Ihnen trotzdem. Stacy war nie zum Schülerball eingeladen worden. Nie hatte ein Junge angerufen. Sie hatte nur sehr wenige Freunde und Freundinnen. Natürlich haben viele Jugendliche solche Probleme. Das Erwachsenwerden ist ein Kampf, aus dem niemand ohne Narben hervorgeht. Und natürlich war die Krankheit meines Vaters eine gewaltige Belastung für uns. Aber das genügt nicht als Erklärung.
Am Ende aller Theorien und psychoanalytischer Überlegungen, nachdem ich die Traumata ihrer Kindheit durchgegangen bin, glaube ich, dass bei meiner Schwester etwas viel Einfacheres und Grundlegenderes danebengegangen ist. Meiner Ansicht nach hatte sie eine Art chemisches Ungleichgewicht im Hirn. Etwas zu viel von einer Substanz, etwas zu wenig von einer anderen.
Wir haben die Anzeichen dafür nicht rechtzeitig erkannt. Stacy war in einer Zeit depressiv, als man solches Verhalten für Verdrießlichkeit hielt. Andererseits nutze ich diese verschlungene Rationalisierung nur dazu, meinen eigenen Gleichmut ihr gegenüber zu rechtfertigen. Stacy war einfach meine komische kleine Schwester. Ich hatte genug mit meinen eigenen Problemen zu tun, also sollte man mich doch bitte zufrieden lassen.
Ich war ein selbstsüchtiger Teenager — was natürlich eine hundertprozentige Tautologie ist.
Egal, ob der Ursprung der Traurigkeit meiner Schwester im physiologischen oder psychologischen Bereich oder in einer komplizierten Kombination aus beiden gelegen hatte, Stacys selbstzerstörerische Reise hatte ein Ende gefunden.
Meine kleine Schwester war tot.
Sie lag zusammengerollt auf dem Boden. So, die Knie an die Brust gezogen, den Kopf gesenkt, hatte sie früher auch immer geschlafen. Doch obwohl keine äußerliche Verletzung zu sehen war, sah ich sofort, dass sie nicht schlief. Ich beugte mich zu ihr hinunter. Stacys Augen waren offen. Sie starrte mich an, fragend, ohne
zu blinzeln. Noch immer wirkte sie vollkommen verloren. Das hätte nicht sein dürfen. Der Tod sollte keine Einsamkeit bringen. Der Tod hätte ihr den Frieden geben müssen, der ihr im Leben nicht vergönnt gewesen war. Warum, fragte ich mich, sah Stacy immer noch so schrecklich verloren aus?
Neben ihr lag eine Spritze, ihr Begleiter im Tod, wie auch im Leben. Drogen natürlich. Ob sie sich absichtlich eine Überdosis gespritzt hatte oder ob es ein Unfall gewesen war, konnte ich noch nicht sagen. Ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Polizei schwärmte aus. Ich riss meinen Blick von ihr los.
Tara.
Die Hütte war völlig heruntergekommen. Waschbären waren eingedrungen und hatten sie nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Das Sofa, auf dem mein Großvater immer mit verschränkten Armen seinen Mittagsschlaf gehalten hatte, war aufgerissen. Die Füllung war auf dem Boden verteilt. Die Federn ragten heraus, bereit, jeden zu stechen, der ihnen zu nahe kam. Der ganze Raum stank nach Urin und toten Tieren.
Ich hielt die Luft an und lauschte nach Babygeschrei. Ich hörte nichts. Hier zumindest nicht. Es gab nur einen weiteren Raum. Ich folgte einem Polizisten ins Schlafzimmer. Es war dunkel. Ich drückte den Lichtschalter. Nichts geschah. Wie Schwerter zerteilten die Taschenlampenstrahlen die Dunkelheit.
Ich schaute mich um. Als mein Blick ihn traf, hätte ich beinahe aufgeschrien.
Da stand ein Laufstall.
Es war einer dieser modernen, transportablen Laufställe mit klappbaren Seitengittern. Monica und ich haben auch so einen. Ich kenne niemanden mit einem Baby, der keinen hat. Das Preisschild hing noch an
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