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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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in einer Bank aufgetaucht. Agent Tickner zeigt Ihnen gleich die Videoaufnahme.«
    »Aus der Bank?«, fragte ich.
    »Ja. Wir haben das Video auf seinen Laptop überspielt. Vor etwa zwölf Stunden ist jemand in diese Bank gekommen, um eine Hundert-Dollar-Note zu wechseln. Wir möchten, dass Sie sich das Video ansehen.«
    Ich setzte mich neben Tickner. Er drückte eine Taste. Das Video startete sofort. Ich hatte mit einem körnigen Schwarzweißfilm gerechnet, doch ich hatte mich getäuscht. Das Video war von schräg
oben in sehr grellen Farben aufgenommen worden. Ein glatzköpfiger Mann sprach mit dem Bankangestellten. Es gab keinen Ton.
    »Den kenne ich nicht«, sagte ich.
    »Moment.«
    Der Glatzköpfige sagte etwas zu dem Angestellten. Sie schienen sich gemeinsam über etwas zu amüsieren. Der Glatzköpfige nahm einen Zettel und winkte kurz zum Abschied. Der Angestellte winkte zurück. Die nächste Person aus der Schlange trat an den Schalter. Ich hörte mich stöhnen.
    Es war Stacy, meine Schwester.
    Auf einmal erfasste mich die Benommenheit, nach der ich mich gesehnt hatte. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil zwei entgegengesetzte Gefühle gleichzeitig auf mich einstürzten. Zum einen der Schock. Meine eigene Schwester hatte mir das angetan. Meine Schwester, die ich von Herzen liebte, hatte mich verraten. Andererseits jedoch auch die Hoffnung — jetzt gab es Hoffnung. Wir hatten eine Spur. Und wenn es Stacy gewesen war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie Tara etwas antun würde.
    »Ist das Ihre Schwester?«, fragte Regan und zeigte mit dem Finger auf das Bild.
    »Ja.« Ich sah ihn an. »Wo wurde das aufgenommen?«
    »In den Catskills«, sagte er. »In einem Ort namens …«
    »Montague«, beendete ich seinen Satz.
    Tickner und Regan sahen sich an. »Woher wissen Sie das?«
    Aber ich war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich weiß, wo sie ist.«

7
    Mein Großvater war gern auf die Jagd gegangen. Mir war das immer seltsam vorgekommen, weil er ein so sanfter, freundlicher Mensch gewesen war. Er hatte nie über seine Leidenschaft gesprochen.
Er hatte keine Hirschköpfe über dem Kamin hängen, keine Fotos oder Geweihe an den Wänden, oder was Jäger sonst gern mit den Kadavern anstellten. Er hatte nie Freunde oder Familienmitglieder mit auf die Jagd genommen.
    Für meinen Großvater war das Jagen eine einsame Tätigkeit gewesen. Weder hatte er sie gerechtfertigt noch erklärt oder mit anderen geteilt.
    1956 hatte Großvater sich eine kleine Jagdhütte in einem Waldgebiet bei Montague im Staat New York gekauft. Angeblich hatte er dafür nicht einmal dreitausend Dollar bezahlt. Ich glaube allerdings auch nicht, dass man heutzutage viel mehr dafür bekommen würde.
    Sie hat nur ein Schlafzimmer und ist allenfalls rustikal, ohne etwas von dem Charme zu haben, den man im Allgemeinen mit dem Wort verbindet. Die Hütte ist kaum zu finden — die Schotterstraße endet fast zweihundert Meter davor. Den Rest muss man auf einem von Baumwurzeln überwachsenen Weg zurücklegen.
    Nach Großvaters Tod hat meine Großmutter die Hütte geerbt. Davon ging ich zumindest aus. Niemand hatte je groß darüber nachgedacht. Meine Großeltern lebten damals schon seit zehn Jahren in Florida. Inzwischen kämpfte Großmutter mit der alles verschlingenden Finsternis der Alzheimer-Krankheit.
    Die alte Hütte gehörte, wie ich annahm, zu ihrem Besitz. Wahrscheinlich war seitdem einiges an Steuern und sonstigen Abgaben aufgelaufen.
    Als wir klein waren, verbrachten meine Schwester und ich jedes Jahr ein Sommerwochenende in der Hütte. Mir machte das keinen Spaß. Natur langweilte mich, falls ich mich nicht gerade gegen Mückenschwärme verteidigen musste. Es gab kein Fernsehen. Wir gingen früh und bei zu großer Dunkelheit ins Bett. Tagsüber wurde die unheimliche Stille häufig vom lieblichen Echo
naher Gewehrschüsse durchbrochen. Wir wanderten viel, eine Beschäftigung, die mich auch heute noch anödet.
    Einmal hatte meine Mutter mir nur khakifarbene Kleidung eingepackt.
    Ich verbrachte volle zwei Tage in der Angst, dass ein Jäger mich mit einem Hirsch verwechseln könnte.
    Stacy hingegen fand dort Zerstreuung. Schon als junges Mädchen schien die Flucht vor der Tretmühle aus Vorstadtschulbesuch, außerschulischen Aktivitäten wie Vereinssport und dem ständigen Streben nach Beliebtheit ihre wahre Passion zu sein.
    Sie ging stundenlang wandern. Sie sammelte Blätter und Raupen in einem Glas. Sie hinterließ mit schlurfenden Füßen

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