Keine zweite Chance
schnappen lassen.
Ich krümmte mich zusammen und rollte den Berg hinunter. Trockenes Gras blieb an meiner Kleidung und in meinen Haaren hängen. Staub wurde aufgewirbelt. Ich unterdrückte ein Husten. Als ich immer schneller zu werden drohte, knallte mein Brustkorb seitlich gegen einen Baumstamm, und ich hörte den dumpfen Schlag. Ich schnappte nach Luft, die der Aufprall mir fast vollständig genommen hatte, aber ich hielt durch. Ich rutschte noch ein paar Meter zur Seite und war auf dem Weg. Die Taschenlampenstrahlen der Cops folgten mir. Sie waren in Sichtweite, aber weit genug weg. Ausgezeichnet.
Auf dem Weg schaute ich erst nach rechts, dann nach links. Von Flanellhemd oder Tara war nichts zu sehen. Wieder versuchte ich, herauszubekommen, in welche Richtung sie gelaufen sein könnten. Nichts zu wollen. Ich blieb stehen. Die Polizisten kamen näher.
»Keine Bewegung!«, rief der Cop wieder.
Die Chancen standen fifty-fifty.
Ich wollte schon nach links laufen, wieder hinein in die Dunkelheit, als ich den jungen Mann mit dem blauen Kopftuch sah, der mir vorhin schon zugenickt hatte. Diesmal schüttelte er den Kopf und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Danke«, keuchte ich.
Vielleicht antwortete er noch, doch ich war schon unterwegs. Ich rannte wieder hinauf und nahm dasselbe Loch im Maschendrahtzaun, durch das ich schon vorhin geschlüpft war. Ich hörte Schritte, aber sie waren zu weit entfernt. Wieder blickte ich auf
und erblickte Flanellhemd. Er stand in der Nähe der Laternen an der Treppe zum U-Bahnhof. Offenbar versuchte er, wieder zu Atem zu kommen.
Ich rannte schneller.
Er auch.
Es lagen wohl etwa fünfzig Meter zwischen uns. Doch er musste ein Kind tragen. Es musste möglich sein, den Abstand zu verringern. Ich beschleunigte. »Halt!«, brüllte der Cop von vorhin jetzt. Vermutlich nur, um mal etwas anderes zu rufen. Ich hoffte bloß, dass sie nicht zu schießen anfingen.
»Er ist wieder auf der Straße«, rief ich. »Er hat meine Tochter!«
Ich weiß nicht, ob sie mir zuhörten. Ich erreichte die Treppe und nahm drei Stufen auf einmal. Jetzt stand ich vor dem Park auf der Fort Washington Avenue am Margaret Corbin Circle. Ich blickte zum Spielplatz hinüber. Nichts. Ich sah die Fort Washington Avenue hinab. Da rannte jemand. An der Mother-Cabrini-High-School. Vor der Kapelle.
Seltsame Bilder schossen mir durch den Kopf. Cabrini Chapel war einer der abstrusesten Orte in ganz Manhattan. Zia hatte mich einmal zur Messe mitgeschleppt, ohne mir zu erzählen, warum die Kapelle eine Art Touristenattraktion war. Mir war sofort klar, was sie dorthin zog. Mother Cabrini war 1901 gestorben, aber ihr einbalsamierter Leichnam wird in einer Art Plexiglas-Block aufbewahrt. Das ist der Altar. Die Priester halten die Messe direkt darüber. Nein, das habe ich mir nicht ausgedacht. Derselbe Mann, der Lenin in Russland einbalsamiert hat, hat auch Mother Cabrini für die Ewigkeit konserviert. Die Kapelle ist für den Publikumsverkehr geöffnet. Es gibt sogar einen Andenkenladen.
Meine Beine wurden schwer, aber ich rannte weiter. Ich hörte die Polizisten nicht mehr. Hastig warf ich einen kurzen Blick zurück. Die Taschenlampen waren weit hinter mir.
»Hier entlang!«, schrie ich. »Bei der Cabrini High!«
Ich lief weiter und erreichte den Eingang der Kapelle. Er war verschlossen. Von Flanellhemd war nichts zu sehen. Ich sah mich mit weit aufgerissenen Augen um und geriet in Panik. Ich hatte sie verloren. Sie waren weg.
»Hierher!«, brüllte ich in der Hoffnung, dass entweder die Polizisten oder Rachel oder beide mich hörten.
Doch mein Mut sank. Meine Chance. Meine Tochter war wieder verschwunden. Ich spürte den Druck auf meiner Brust. Und in diesem Moment hörte ich, wie ein Motor angelassen wurde.
Mein Kopf ruckte nach links. Ich suchte die Straße ab und rannte los. Ein Auto setzte sich in Bewegung. Es war ungefähr zehn Meter von mir entfernt. Ein Honda Accord. Ich prägte mir das Nummernschild ein, obwohl ich wusste, dass das vergeblich sein würde. Der Fahrer versuchte immer noch, aus der Parklücke herauszukommen. Ich sah ihn nicht. Aber ich wollte kein Risiko eingehen.
Der Honda stand gerade so, dass er am vor ihm stehenden Wagen vorbei passte, als ich am Griff der Fahrertür riss. Endlich war das Glück einmal auf meiner Seite – er hatte die Tür nicht verriegelt. War vermutlich nicht dazu gekommen, weil er es eilig hatte.
Mehrere Dinge geschahen innerhalb sehr kurzer Zeit. Als ich
Weitere Kostenlose Bücher