Keine zweite Chance
sich schließlich, oder? Ich hatte Tara nicht mehr gesehen, seit sie sechs Monate alt gewesen war. Kinder entwickeln sich schnell in dieser Lebensphase. Sie wäre vom Baby fast schon zum Kleinkind herangewachsen. Ich hatte an einem fahrenden Auto gehangen, verdammt noch mal. Ich hatte nur einen sehr kurzen Blick auf das Kind geworfen.
Aber ich war mir sicher.
Das Kind auf dem Beifahrersitz hatte ausgesehen wie ein Junge. Er war wahrscheinlich eher drei als zwei Jahre alt. Seine Haut, der Teint, war einfach zu hell.
Es war nicht Tara.
Ich wusste, dass Tickner und Regan Fragen hatten. Ich wollte mit ihnen zusammenarbeiten. Außerdem wollte ich wissen, wie sie von der Lösegeldübergabe erfahren hatten. Von Rachel hatte ich nichts gesehen oder gehört. Ich fragte mich, ob sie auch hier im Krankenhaus lag. Und ich fragte mich, was mit dem Lösegeld, dem Honda Accord und dem Mann im Flanellhemd passiert war. Hatten sie ihn geschnappt? Hatte er meine Tochter wirklich entführt – oder war auch die erste Lösegeldübergabe ein Betrugsmanöver gewesen? Falls ja, was hatte meine Schwester Stacy damit zu tun?
Zusammenfassung: Ich war verwirrt. Auftritt Lenny alias Cujo.
In ausgebeulten Khakis und einem rosafarbenen Lacoste-Hemd platzte er ins Zimmer. In seinen Augen lag dieser verängstigte,
wilde Blick, der wieder Erinnerungen an unsere Kindheit weckte. Er drängte sich an einer Krankenschwester vorbei an mein Bett.
»Was zum Teufel ist passiert?«
Ich wollte Lenny gerade eine kurze Übersicht sämtlicher Ereignisse geben, als er mich mit erhobenem Zeigefinger bremste. Er wandte sich an die Schwester und bat sie, das Zimmer zu verlassen. Als wir alleine waren, bedeutete er mir mit einem Nicken, dass ich anfangen sollte. Von dem Treffen mit Edgar im Park über den Anruf bei Rachel, ihre Ankunft in Newark, ihre Vorbereitungen mit den technischen Gimmicks, die Anrufe mit Orts- und Terminangabe, die Lösegeldübergabe bis zu meinem Sprung aufs Auto erzählte ich ihm alles. Dann kam ich noch kurz auf die CD zurück. Lenny unterbrach mich gelegentlich – das machte er immer –, jedoch längst nicht so häufig wie sonst. Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich seine Miene, und vielleicht – ich will da nicht zu viel hineininterpretieren – war er verletzt, weil ich mich ihm nicht anvertraut hatte. Sie hellte sich aber bald wieder auf. Er sammelte sich langsam.
»Wäre es möglich, dass Edgar Spielchen mit dir treibt?«, fragte er.
»Was sollte er damit bezwecken? Schließlich hat es ihn vier Millionen Dollar gekostet.«
»Nicht, wenn er das Ganze eingefädelt hat.«
Ich verzog das Gesicht. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Lenny gefiel meine Antwort nicht, er hatte ihr aber auch nichts entgegenzusetzen. »Und wo ist Rachel jetzt?«
»Ist sie nicht hier?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Dann habe ich keine Ahnung.«
Wir schwiegen beide einen Moment lang.
»Vielleicht wartet sie bei mir zu Hause?«, sagte ich.
»Ja«, sagte Lenny. »Vielleicht.«
Aus seiner Stimme sprach nicht die geringste Überzeugung.
Tickner öffnete die Tür. Er hatte die Sonnenbrille auf seinen kahl rasierten Kopf geschoben. Der Anblick irritierte mich etwas: Wenn er sich einen Mund auf den unteren Teil seiner Glatze gemalt und sich dann vorgebeugt hätte, hätte es wie ein zweites Gesicht ausgesehen. Regan folgte in einer Art Hip-Hop-Schritt, aber vielleicht beeinflusste der Unterlippenbart auch meine Sichtweise. Tickner übernahm die Gesprächsführung.
»Wir wissen von der Lösegeldforderung«, sagte er. »Wir wissen, dass Ihr Schwiegervater Ihnen weitere zwei Millionen Dollar gegeben hat. Wir wissen, dass Sie heute bei einer Privatdetektei namens MVD waren und nach einem Passwort für eine CD-ROM gefragt haben, die Ihrer verstorbenen Frau gehörte. Wir wissen, dass Rachel Mills bei Ihnen war und danach nicht, wie Sie Detective Regan vorhin erzählt haben, nach Washington D.C. zurückgekehrt ist. All das können wir also überspringen.«
Tickner trat näher ans Bett. Lenny beobachtete ihn sprungbereit. Regan verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. »Fangen wir mit dem Lösegeld an«, sagte Tickner. »Wo ist es?«
»Weiß ich nicht.«
»Hat es jemand genommen?«
»Weiß ich nicht.«
»Was heißt, Sie wissen es nicht?«
»Er hat mir gesagt, ich soll es abstellen.«
»Wer ist er? «
»Der Entführer. Derjenige, der am Handy war.«
»Wo haben Sie es abgestellt?«
»Im Park. Auf dem Weg.«
»Und was
Weitere Kostenlose Bücher