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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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die Tür aufriss, konnte ich ihn durchs Fenster sehen. Es war tatsächlich der Mann im Flanellhemd. Er reagierte blitzschnell. Er griff nach der Tür und versuchte, sie wieder zu schließen. Ich zerrte heftiger. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Er trat aufs Gas.
    Ich versuchte neben dem Wagen herzulaufen, wie man das aus Filmen kennt. Das Problem dabei ist, dass Autos schneller sind als Menschen. Aber ich ließ nicht los. Man kennt diese Geschichten von Leuten, die in bestimmten Situationen fast übermenschliche Kräfte entwickeln, von ganz normalen Menschen, die Autos hochheben, um ihre Lieben zu retten, die darin gefangen
sind. Ich mache mich über solche Geschichten lustig. Sie wahrscheinlich auch.
    Ich behaupte nicht, dass ich das Auto angehoben habe. Aber ich ließ nicht locker. Ich zwängte meine Finger zwischen Tür und Holm. Ich zog mit beiden Händen und meine Finger wurden stahlhart. Ich würde nicht loslassen. Egal, was geschah.
    Wenn ich festhalte, überlebt meine Tochter. Wenn ich loslasse, stirbt sie.
    Vergiss die Konzentration. Vergiss die Trennung von Berufs- und Privatleben. Dieser Gedanke, diese Gleichung, war so einfach wie das Atmen.
    Der Mann im Flanellhemd trat das Gaspedal durch. Der Wagen wurde schneller. Ich sprang hoch, aber meine Beine fanden nirgends Halt. Sie rutschten die hintere Tür hinunter und schleiften über den Asphalt. Ich spürte, wie die Haut von meinen Knöcheln abgeschürft wurde. Noch einmal versuchte ich, Fuß zu fassen. Es ging nicht. Es tat höllisch weh, doch ich war nicht bereit, irgendwelche Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich ließ nicht locker.
    Mir war klar, dass meine Lage immer schlechter wurde. Ich würde mich nicht mehr viel länger festhalten können, so sehr ich mich auch dazu zwang. Ich musste etwas unternehmen. Also versuchte ich, mich in den Wagen hineinzuziehen, aber dafür reichte meine Kraft nicht. Ich hielt mich fest und streckte die Arme aus. Ich versuchte, wieder aufzuspringen. Mein Körper hing jetzt horizontal, also parallel zum Boden. Ich streckte mich nach oben. Mein rechtes Bein berührte und umklammerte etwas. Die Antenne auf dem Wagendach. Würde die mich halten? Wohl kaum. Mein Gesicht wurde ans hintere Seitenfenster gepresst. Ich sah den Kindersitz.
    Er war leer.
    Wieder ergriff mich Panik. Meine Hände begannen abzurutschen.
Wir waren erst etwa zwanzig, dreißig Meter gefahren. Das Gesicht am Fenster, die Nase an die Scheibe gedrückt, Körper und Gesicht zerkratzt und zerschlagen, sah ich das Kind auf dem Vordersitz an, und eine niederschmetternde Wahrheit löste meine Hände vom Türholm.
    Wieder arbeitet das Hirn seltsam. Das Erste, was mir durch den Kopf ging, war ein typischer Arztgedanke: Das Kind gehört auf den Rücksitz. Der Honda Accord hat einen Beifahrer-Airbag. Ein Kind unter zwölf Jahren darf nicht vorne sitzen. Außerdem gehört ein Kleinkind in einen richtigen Kindersitz. Das war sogar gesetzlich vorgeschrieben. Ohne Kindersitz vorne mitzufahren war also sogar doppelt gefährlich.
    Alberner Gedanke. Vielleicht aber auch ganz normal. Der nahm mir allerdings nicht den Kampfgeist.
    Der Mann im Flanellhemd riss das Lenkrad nach rechts. Ich hörte das Quietschen der Reifen. Der Wagen machte einen Satz nach rechts und meine Finger rutschten ab. Ich hatte nichts mehr in der Hand. Ich flog durch die Luft, mein Körper landete hart auf dem Boden und schlidderte noch mehrere Meter wie ein Stein über den Asphalt. Ich hörte die Polizeisirenen hinter mir. Sie würden, so hoffte ich, dem Honda Accord folgen. Doch das spielte keine Rolle. Ich hatte nur einen kurzen Blick erhascht, aber der hatte gereicht, um die Wahrheit zu erkennen.
    Das Kind in dem Wagen war nicht meine Tochter.

29
    Wieder lag ich im Krankenhaus, dieses Mal im New York Presbyterian  – meinem alten Revier. Sie hatten mich noch nicht geröngt, aber ich war ziemlich sicher, dass sie eine gebrochene Rippe finden würden. Und dagegen konnte man eigentlich nichts tun,
außer sich mit Schmerzmitteln voll zu dröhnen. Es würde wehtun. Das war in Ordnung. Ich war ziemlich ramponiert, hatte eine Wunde am Bein, die aussah, als wäre ich von einem Hai angegriffen worden. Von beiden Ellenbogen war die Haut abgeschürft. Das interessierte mich alles nicht.
    Lenny kam in Rekordzeit. Ich wollte ihn bei mir haben, weil ich nicht recht wusste, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Anfangs hätte ich mir beinahe eingeredet, dass ich mich geirrt hatte. Ein Kind verändert

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