Keine zweite Chance
warten Sie, Sie haben sich da in einen Teufelskreis manövriert.«
»Wieso?«
»Wenn Seidman es nicht war – wenn tatsächlich der Täter das Fenster eingeschlagen hat –, warum hat Seidman ihn dann nicht gehört?«
»Vielleicht erinnert er sich nicht mehr daran. Das haben wir doch schon tausendmal erlebt. Wenn jemand durch einen Schuss so schwer verletzt wird, hat er ernsthafte Erinnerungslücken.« Regan lächelte. Er erwärmte sich langsam für seine Theorie. »Insbesondere, wenn er etwas gesehen hat, das ein totaler Schock für ihn war – etwas, an das er sich nicht erinnern will.«
»Zum Beispiel, dass seine Frau ausgezogen und umgebracht wird?«
»Zum Beispiel«, sagte Regan. »Oder vielleicht etwas noch Schlimmeres.«
»Was wäre denn noch schlimmer?«
Im Flur piepte etwas. Sie hörten etwas aus dem Schwesternzimmer
nebenan. Jemand schimpfte über einen Schichtwechsel oder eine Änderung des Dienstplans.
»Wir gehen immer davon aus, dass uns noch was fehlt«, sagte Regan langsam. »Von Anfang an. Aber vielleicht ist es genau andersrum. Vielleicht haben wir etwas hinzugefügt .«
Tickner runzelte die Stirn.
»Wir fügen immer Dr. Seidman hinzu. Hören Sie, wir wissen, wie das läuft. Irgendwie ist der Ehemann bei solchen Fällen immer beteiligt. Neun von zehn Mal – neunundneunzig von hundert Mal. Also haben wir Seidman in jedes Szenario eingebaut.«
Tickner sagte: »Und das halten Sie für falsch?«
»Hören Sie mir noch einen Moment zu. Wir hatten Seidman von Anfang an auf dem Kieker. Seine Ehe war keine Idylle. Er hat geheiratet, weil seine Frau schwanger war. Wir haben das alles aufgegriffen. Aber selbst wenn ihre Ehe die reinste Ozzie and Harriet -Show gewesen wäre, hätten wir gesagt: Nein, so glücklich ist doch kein Mensch, und hätten uns auf ihn gestürzt. Wir haben also alles, worüber wir gestolpert sind, dieser Sichtweise untergeordnet: Seidman musste was damit zu tun haben. Darum lassen wir ihn jetzt mal für einen kurzen Moment aus der Gleichung raus. Sagen wir einfach mal, er ist unschuldig.«
Tickner zuckte die Achseln. »Okay, und?«
»Seidman hat von seiner Verbindung zu Rachel Mills erzählt. Und das die über all die Jahre gehalten hat.«
»Richtig.«
»Das klang so, als wäre er ein bisschen besessen von ihr.«
»Ein bisschen?«
Regan lächelte. »Nehmen wir einfach mal an, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. Mehr noch. Nehmen wir an, dass es auf mehr als Gegenseitigkeit beruht.«
»Okay.«
»Jetzt denken Sie dran, wir setzen voraus, dass Seidman nicht
beteiligt war. Das heißt, er sagt die Wahrheit. In allen Punkten. Darüber, wann er Rachel Mills zum letzten Mal gesehen hat. Über diese Fotos. Sie haben sein Gesicht gesehen, Lloyd. Seidman ist nicht unbedingt ein großartiger Schauspieler. Die Bilder haben ihn schockiert. Er wusste nichts davon.«
Tickner runzelte die Stirn. »Schwer zu sagen.«
»Aber mir ist bei den Bildern noch was aufgefallen.«
»Und das wäre?«
»Warum hat der Privatdetektiv keine Fotos von beiden zusammen gemacht? Wir haben sie vor dem Hospital. Wir haben ihn beim Rauskommen. Wir haben sie beim Rauskommen. Aber keins, auf dem beide zusammen drauf sind.«
»Sie waren eben vorsichtig.«
»Wieso vorsichtig? Sie hat vor dem Gebäude herumgelungert, in dem er arbeitet. Wenn man vorsichtig sein will, macht man so was nicht.«
»Und wie sieht Ihre Theorie nun aus?«
Regan lächelte. »Überlegen Sie mal. Rachel muss gewusst haben, dass Seidman in dem Gebäude war. Aber muss er gewusst haben, dass sie davor steht?«
»Moment mal«, sagte Tickner. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Sie meinen, sie war hinter ihm her?«
»Wäre doch möglich.«
Tickner nickte. »Und – langsam – wir reden hier nicht über irgendeine Frau. Wir reden über eine ausgebildete FBI-Agentin.«
»Also erstens eine, die weiß, wie man eine professionelle Entführung organisiert«, ergänzte Regan und hob einen Finger. Er hob einen zweiten Finger. »Zweitens weiß sie, wie man jemanden ermordet, ohne sich erwischen zu lassen. Drittens weiß sie, wie man Spuren verwischt. Viertens kennt sie Marcs Schwester Stacy. Fünftens …«, jetzt ging der Daumen hoch, »… könnte sie ihre alten
Kontakte benutzen, um die Schwester zu finden und ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben.«
»Heiliger Strohsack.« Tickner sah ihn an. »Und das, was Sie vorhin gesagt haben, dass Seidman so was Schreckliches gesehen hat, dass er sich
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