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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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die Mittel, in einem guten Restaurant zu essen. Auch seinen Anzug hätte er nicht auf dem Vietnamesenmarkt kaufen
     müssen. Wenn er wollte, könnte er statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln längst im eigenen Mercedes oder zumindest im Shiguli
     herumfahren.
    Man kann nicht behaupten, daß es Golowkin Spaß machte, sich jeden Morgen im Berufsverkehr in die überfüllte Metro zu zwängen
     und sich im Gänsemarsch mit der verschlafenen Menge zur Rolltreppe am Ausgang zu schieben.
    Auch der Job als Chef der Einkaufsabteilung einer kleinen Makkaronifabrik machte ihm natürlich keinen Spaß. Doch diesen seltsamen
     und im übrigen ziemlich anstrengenden Posten hatte er nun bereits seit zwanzig Jahren. Und er bemühte sich, nicht »über seine
     Verhältnisse« zu leben, das heißt, nicht mehr auszugeben, als er mit diesem Job verdiente. Von den tatsächlichen Einkünften
     des bescheidenenChefeinkäufers ahnte niemand etwas, nicht einmal seine Frau.
     
    Durch welches Wunder die bettelarme, schmuddelige kleine Fabrik in der stillen Gasse in Sokolniki überlebt hatte, war ein
     Rätsel. Die Makkaroni, die dort mit rostigen Maschinen nach veralteter Technologie hergestellt wurden, kaufte längst niemand
     mehr. Sie wurden an Soldaten verfüttert sowie an Insassen von Straflagern, Gefängnissen und Waisenhäusern.
    Das düstere, halb verfallene Gebäude war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von einem deutschen Konditor gebaut worden. Früher
     einmal wurden hier von Hand leckere Kuchen und luftige Petits fours gebacken und glänzende Schokoladenbomben hergestellt,
     in denen winzige Porzellanhäschen mit rosa Ohren, Püppchen im Ballettkostüm oder kleine Eisbären steckten. Das alles wurde
     jeden Morgen aus Sokolniki direkt an den berühmten Laden von Jelissejew und die Bäckerei von Filippow geschickt. Laufburschen
     in eleganter Uniform belieferten Kunden in ganz Moskau mit riesigen Torten. Sie hielten die turmhohen, bizarr bemalten Schachteln
     mit den üppigen Schleifen auf ausgestreckten Armen, feierlich und vorsichtig, denn jede Torte war ein unikales Meisterwerk
     der Konditorkunst.
    Zum Wohnen ließ sich der Deutsche ein einstöckiges Pfefferkuchenhäuschen mit einer breiten Wendeltreppe bauen.
    Nach der Revolution emigrierten die Nachkommen des Konditors, die Fabrik wurde zum Volkseigentum erklärt und stellte nun keine
     erlesenen Konditorwaren mehr her, sondern fade Makkaroni für die hungrigen Werktätigen.
    In dem Pfefferkuchenhäuschen wurden Buchhaltung, Personalabteilung und sonstige Verwaltungsbereiche sowie Partei- und Gewerkschaftsleitung
     untergebracht.
    Übrigens hatte die Fabrikverwaltung in den letzten Jahren kaum etwas zu tun. Buchhaltung und Planungsabteilung,ein halbes Dutzend älterer, vom Schicksal arg gebeutelter Frauen, tranken Tee und erörterten mexikanische Fernsehserien, die
     Fehler ihrer Schwiegertöchter und -söhne, die steigenden Preise und die wachsende Kriminalität.
    Golowkin betrat sein kleines Büro, in dem noch immer das Leninbild und gerahmte Ehrenurkunden hingen, zog als erstes sein
     Jackett aus und betrachtete angewidert den färbenden Kragen. Selbst an seinen Händen blieben häßliche bläuliche Flecke zurück.
    »Sauerei«, murmelte er vor sich hin, hängte das Jackett auf einen Bügel, zog einen blauen Baumwollkittel an und setzte sich
     an seinen Schreibtisch.
    Vorgestern abend, als er, reichlich Schlaftabletten intus, im Zug Prag – Moskau in schweren, ungesunden Schlaf sank, hatte
     er sich gesagt: Später. Alles später. Erst mal ausruhen von dieser verrückten Jagd; wenn ich wieder zu mir gekommen bin, kann
     ich in Ruhe über alles nachdenken. Sobald er in Moskau aus dem Zug gestiegen war, machte er sich kleinmütig vor, daß er sich
     zu Hause auch nicht richtig würde konzentrieren können. Das düstere, nervöse Schweigen seiner Frau würde ihn daran hindern.
     Tatsächlich hatte sich in den zwei Wochen, die er in Prag verbracht hatte, zu Hause nichts verändert. Seine Frau setzte ihren
     demonstrativen Boykott fort, der Kühlschrank war leer.
    Golowkin nahm erneut ein starkes Schlafmittel und fiel in schweren Schlaf. Er erwachte, frühstückte auf dem Weg zur Arbeit
     in einer Pizzeria und sagte sich wieder, daß er sich, eingeschlossen in seinem stillen, behaglichen Büro, nun endlich konzentrieren
     konnte. Es mußte einen Ausweg geben. Er mußte nur richtig nachdenken.
    Doch als er nun allein war und nichts mehr ihn am Nachdenken hinderte, hatte er

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