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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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hören und holte ihre Tochter nie ans Telefon, wenn er anrief.
    Nur ihrer besten Freundin Tanja erzählte Vera alles. Schon damals, in der neunten Klasse.
    »Er hat dich vergewaltigt!« Tanja war empört. »Er ist ein mieses Schwein!«
    »Aber vielleicht« – Vera stockte und wurde rot –, » vielleicht liebt er mich ja doch, wenigstens ein bißchen?«
    Später, mit zwanzig, sagte Tanja: »Er macht dir dein Leben kaputt, jede normale Frau hätte ihn längst zum Teufel gejagt.«
    Und jetzt, mit dreißig, bekam Vera von ihrer Freundin zu hören: »Selinski ist ein Schwein, ein gefühlloses Vieh …«
    Im Grunde wußte sie das selbst. Sie wußte seit langem, was er wert war, aber sie war einfach machtlos. Tief in ihrem Herzen
     saß noch immer die schwache Hoffnung: Vielleicht liebt er mich ja wirklich? Er ist eben bloß sehr kompliziert, anders als
     alle anderen. Sie genierte sich vor sich selbst wegen dieser dummen, noch immer lebendigen Hoffnung.
    Als sie jetzt vorm Spiegel stand, beschimpfte sie sich, weil sie sich die Wimpern tuschte, die Lippen mit Konturstift nachzog
     und sich das Gesicht puderte.
    Danach brauchte sie schrecklich lange zum Anziehen. Sie schlüpfte in Jeans und T-Shirt, drehte sich vorm Spiegel und vertauschte
     die Jeans gegen einen langen bunten Rock. Sie wollte lässig aussehen, wie im Hauslook, damit er ihre Bemühungen nicht bemerkte.
    »Er wird es sowieso nicht bemerken«, spottete Vera, schlüpfte wieder in die Jeans und wählte anstelle des T-Shirts einen langen,
     dünnen Pulli.
    Die ganze Zeit über bellte Matwej laut. Der Hund glaubte, sie ziehe sich für den Spaziergang mit ihm an. Er konnte nicht verstehen,
     warum das so lange dauerte, und war aufrichtig empört.
    Heute mache ich endlich mit ihm Schluß, dachte Vera. Ich werde etwas Beleidigendes, Demütigendes zu ihm sagen. Dann muß ich
     nie mehr leiden. Ich werde viel arbeiten, vielGeld verdienen, und im Sommer fahre ich mit Mama ans Meer.
    Nach einer halben Stunde erschien Stas. Wie immer – keine Blume, keine Schokolade, nur ein halbherziger Kuß auf die Wange
     und eine Mappe mit zwei Seiten Werbeschwachsinn, der ins Englische übersetzt werden mußte.
    »Machst du mir dein spezielles Omelett mit geröstetem Schwarzbrot und Tomaten? Ich hab extra nicht gefrühstückt.«
    Sie briet ihm das Omelett und kochte Kaffee. Dann übersetzte sie die flammenden Tiraden über die wundertätigen Eigenschaften
     der neuen Kosmetikserie der russischen Firma »Diva« ins Englische.
    Stas arbeitete bei einem kleinen Verlag, der Werbebroschüren, Horoskope, Heftchen über die Geheimnisse der sexuellen Übereinstimmung,
     über wundertätige Diäten und Gymnastik sowie Wandkalender mit nackten Mädchen herausgab. Inhaber war sein Freund, er selbst
     der einzige Mitarbeiter. Im Grunde arbeitete auch Vera in diesem Verlag. Ständig übersetzte sie etwas oder führte auf englisch
     per Telefon Verhandlungen. Allerdings bekam sie dafür keine Kopeke. Seit fünfzehn Jahren tat sie für Stas alles uneigennützig
     und mit Freuden.
    Als sie mit der Übersetzung fertig war und ihm die ausgedruckten englischen Seiten reichte, fragte er: »Wann kommt denn deine
     Mutter zurück?«
    »Um fünf.« Vera sah auf die Uhr, dann blickte sie Stas an. »Weißt du, Stas, ich wollte dir was sagen …«
    Doch da stand er bereits dicht vor ihr, seine Hände glitten unter ihren weiten Pulli und öffneten geschickt ihren BH.
    »Ich wollte dir sagen, daß ich nicht mehr …«
    »Ja, Vera, ich höre dir zu …« Mit seinen schmalen, trockenen Lippen verschloß er ihr den Mund.

Drittes Kapitel
    Ilja Golowkin war im neuen Anzug in den Regen geraten. Er konnte Regen nicht ausstehen, und nun hatte er auch noch seinen
     Schirm vergessen.
    Als Golowkin feststellte, daß sein dunkelblaues Jackett färbte und sich auf dem schneeweißen Hemd häßliche blaue Spuren abzeichneten,
     hätte er am liebsten vor Ärger geheult. Er redete sich hartnäckig ein, daß ihm nur deswegen zum Heulen zumute war, weil das
     Schildchen in dem schicken blauen Jackett »made in England« offenbar log und der elegante dunkelblaue Anzug mit den Nadelstreifen
     mitnichten britischer Herkunft war.
    Die Farbspuren entdeckte er im Spiegel einer billigen Pizzeria, in die er gegangen war, um etwas zu essen. Bereits seit einem
     Monat redete er nicht mehr mit seiner Frau. Wenn sie sich stritten, und das geschah in letzter Zeit häufig, stellte Raïssa
     das Einkaufen und Kochen ein.
    Golowkin besaß

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