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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sie nicht.«
    Diese Gespräche ärgerten und ermüdeten Skwosnjak. Aber er blieb geduldig. Sachar war der einzige Mensch auf der Welt, für
     den er wenn nicht Zuneigung, so doch eine kindliche Dankbarkeit empfand, ein eigentümliches, warmes Gefühl tief im Herzen.
    Anderen gegenüber war Sachar wie immer – hart, keinen Widerspruch duldend. An erster Stelle stand für ihn der unerschütterliche
     Diebeskodex, und jeder, der ihn verletzte, verdiente Bestrafung.
    Über den Mongolen hatten sich schon viele bei ihm beschwert. Er hatte viele gekränkt. Doch Sachar rührte seinen alten Freund
     nicht an. Obwohl er selbst ihm vieles nicht verzeihen konnte, rührte er ihn nicht an. Skwosnjak wußte den einzigen heimlichen
     Grund dafür: Angst. Sachar hatte Angst vor dem Mongolen, und diese Angst enthielt mehr Mystik und Aberglauben als Logik. Obwohl
     – es lag auch eine gewisse Logik darin.
    »Wenn ich bloß daran denke, daß man ihn in die Schranken weisen müßte, steht er schon wie aus dem Erdboden gestampft vor mir
     und macht mich mit einem Schlag kalt«, sagte Sachar eines Tages zu Skwosnjak. »Aber man muß ihn aufhalten. Er ist ja kein
     Mensch mehr, er ist eine Maschine.«
    Das konnte der Mongole nicht gehört haben. Das war ausgeschlossen. Dennoch stand er ein paar Tage später vor Skwosnjak, wie
     immer urplötzlich, und sagte leise: »Es gibt was zu bereden.«
    Skwosnjak wunderte sich nicht, als er den neuen Befehl seines krummbeinigen Herrn vernahm. Er hatte damit gerechnet. Und er
     wußte schon, was er tun würde.
    Der Mongole hatte eine kleine Schwäche. Er liebte Rituale, theatralische Effekte. Er hätte das Ganze auch selbst erledigen
     können, aber er wandte sich an Skwosnjak. Er wollte ein schönes Schauspiel, wollte sich berauschen an seiner absoluten Macht.
     Na, sein Schauspiel sollte er haben.
    Skwosnjak hielt dem durchdringenden Blick der Schlitzaugen stand – er zwang sich einfach, in diesem Moment zu denken und zu
     fühlen, wie der Mongole es wollte. Und der Mongole schöpfte bis zum letzten Augenblick keinen Verdacht.
    Im April wurde Skwosnjak einundzwanzig.
    »Ich möchte gern zu dritt in aller Stille feiern«, sagte er zu Sachar.
    »Der Dritte ist der Mongole?«
    »Wer sonst? Ein bißchen an die alten Zeiten zurückdenken. Wenn schönes Wetter ist, können wir ja rausfahren ins Grüne, angeln,
     ein Feuer machen. Das magst du doch.«
    »Gut, mein Sohn. Wenn du das möchtest, machen wir das. Einundzwanzig – da ist man nach englischem Gesetz volljährig.«
    Das Wetter war prächtig. Sachar fuhr selbst. Sein bescheidener Niwa war genau das Richtige für die Waldwege der Moskauer Umgebung.
     Skwosnjak saß neben Sachar, der Mongole hinten. Während der ganzen Fahrt spürte Skwosnjak dessen Blick, und er gestattete
     sich nicht einmal, daran zu denken, was in einer halben Stunde geschehen würde.
    An einem morastigen kleinen Fluß beschlossen sie anzuhalten. Sie stiegen aus.
    »Fische gibt’s hier bestimmt nicht, aber es ist ein schönes Plätzchen«, sagte Sachar.
    »Los!« flüsterte der Mongole nur mit den Lippen.
    Sachar stand mit dem Rücken zu ihnen und reckte sich genüßlich, wobei seine Gelenke knackten.
    »Diese Luft!«
    Im selben Augenblick ploppte trocken ein Schuß.
    Der Mongole fiel ins Gras, die Schlitzaugen starrten in den klaren Aprilhimmel. Skwosnjak ging zu ihm und schaute in die furchterregenden,
     alles sehenden Augen. Nun waren sie nicht mehr furchterregend. Sachar beugte sich hinunter und schloß sie mit seiner großen,
     tätowierten Pranke.
    Sie schleiften den Leichnam zum Fluß und warfen ihn ins Wasser.
    »Der taucht nicht wieder auf«, sagte Sachar, »der Fluß ist sumpfig wie ein Moor.«
    Sie setzten sich ins Gras. Sachar zündete sich eine Zigarette an und sagte kaum hörbar: »Danke, mein Sohn.«
    »Du hast es gewußt?« fragte Skwosnjak. »Du hast gewußt, warum wir den Ausflug machen?«
    »Ja.« Sachar lachte verlegen. »Ich war mir nur nicht sicher, wie du dich entscheiden würdest. Das war deine Entscheidung,
     nur deine, mein Sohn. Danke …«

Dreizehntes Kapitel
    Sonja saß im Nachthemd auf dem Küchensofa. Vera hatte ihr eine warme Strickjacke um die Schultern gelegt. Es war fast Mitternacht,
     draußen fiel ein kalter Regen.
    »Mit meinen Eltern kann ich nie so zusammensitzen und reden. Mama tut zwar, als ob sie zuhört, aber ich sehe an ihren Augen:
     Sie denkt an ihren eigenen Kram. Und Papa, der kann überhaupt nicht zuhören, der sagt immer nur

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