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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Eltern konnten ihr höchstens fünfzig
     Rubel am Tag mitgeben, das reichte gerade für ein Glas Saft und ein Stück Kuchen in der Schulkantine.
    Die Kinder liehen einander Geld gegen Prozente, führten Buch darüber und veranstalteten regelrechte Rivalenkämpfe wie unter
     Banditen. Ihre Umgangssprache bestand aus Obszönitäten und Kriminellenjargon. Sonja erzählte, als ein Junge im Kartenspiel
     verloren hatte, mußte er dafür im Supermarkt einen Karton »Kinderüberraschungen« stehlen. Natürlich wurde er erwischt, aber
     er rief seinen Papa an, dem mehrere Läden gehörten, der Papa kam sofort, schmierte alle gut, und man ließ den Jungen laufen.
    »Wie kann man jemanden nur zu so etwas zwingen?« Vera war entsetzt. »Wie kann man einen normalen Menschen zum Stehlen zwingen?«
    »Kapierst du nicht« – Sonja runzelte ärgerlich die Stirn –, »der Vater von dem Jungen, der beim Kartenspiel gewonnen hat,
     der gehört zur Schutztruppe.«
    »Er ist Wachmann?«
    »Er ist Bandit«, erklärte Sonja geduldig, »und zwar genau in der Bande, die vom Vater des anderen Jungen Schutzgeld kassiert.
     Verstehst du jetzt?«
    »Ungefähr.« Vera seufzte.
    »In meiner Schule kann man die Gesetze der Verbrecherwelt studieren. Da sammle ich Erfahrungen, von denen habt ihr beide,
     du und Mama, keine Ahnung.«
    »Was denn für Erfahrungen, Sonja?«
    »Na, ich hab dir doch erzählt, daß ich Kriminalistin werden will. Ich werde Verbrecher fangen. Und die kann ich jetzt schon
     mal studieren.«
    »Du meinst also, die meisten deiner Mitschüler werden Banditen? Übertreibst du da nicht?«
    »Es würde mich sehr freuen, wenn sich herausstellen sollte, daß ich mich irre«, sagte das Mädchen abgeklärt und seufzte.
    Äußerlich hatte Sonja erstaunliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter – sie war genauso dünn, schwarzäugig, hatte das gleiche glatte,
     schulterlange kastanienbraune Haar. Aber sie war bedeutend erwachsener, als ihre Mutter es mit zehn gewesen war. Während Vera
     ihr zuhörte, dachte sie plötzlich, daß das Mädchen in gewisser Hinsicht das Leben besser kannte als ihre Eltern. So komisch
     das klang – das Leben von Sonjas Eltern schien wesentlich einfacher und gemütlicher als das der Zehnjährigen.
    »Hör mal, es ist schon nach eins!« rief Vera nach einem Blick auf die Uhr erschrocken. »Ab ins Bett, sofort! Aber Zähne putzen
     nicht vergessen.«
    Im Zimmer brannte eine Nachttischlampe. Sonja schlief auf dem Sofa. Vera sah unterm Kopfkissen ein kleines Puppenbein herauslugen.
    »Sag bloß keinem, daß ich noch mit Puppen spiele«, murmelte Sonja, kroch unter die Decke und drückte das dralle Gummipüppchen
     mit dem Spitzenhäubchen an sich.

Vierzehntes Kapitel
    »Hallo, Sachar. Entschuldige, daß ich so lange nicht da war. Keine Zeit. Schön hast du’s hier, die Vögel singen, die Vergißmeinnicht
     blühen. Ich hab das ewige Rumrennen satt, aber ich kann nicht aufhören. Weißt du, wie ich mich fühle?Wie ein Hamster im Laufrad. Der Hamster dreht mit den Pfoten das Rad, erst langsam, dann immer schneller und schneller, bis
     man nur noch einen braunen Fleck erkennt. Er rennt und rennt, bis er am Herzschlag stirbt. Aber ich hab ein kräftiges Herz.
     Ich halte das aus. Na, ich werd mal ein bißchen gießen, damit die Blumen nicht eingehen.«
    Skwosnjak stand von der kleinen Bank auf und schlenderte die schmale Allee zwischen den Grabeinfriedungen entlang. Von einem
     ovalen Emailleschild auf dem schneeweißen Marmorgrabstein blickte ihm ein noch nicht alter, vollkommen kahlköpfiger Mann nach.
    »Sacharow Gennadi Borissowitsch, 1928 –1987« stand in goldenen Lettern auf dem Marmor.
    Über dem Friedhof lärmten die Krähen und zwitscherten fröhlich die Spatzen. Hell leuchtete in der warmen Morgensonne die goldene
     Kuppel der Friedhofskapelle. Hier war die Totenmesse für den von der Kugel eines Scharfschützen getöteten Sachar gelesen worden.
     Den Scharfschützen hatte Skwosnjak später ausfindig gemacht und erledigt. Der Auftraggeber aber war ihm entwischt.
    Einmal im Jahr besuchte Skwosnjak auf jeden Fall das Grab, allerdings nie am Geburtstag oder am Todestag. Hierher kam er,
     wenn er am Ende war. Wenn er mit keinem Lebenden mehr ruhig und offen reden konnte. Sachar hatte gern gesagt: »Klage nie,
     nicht einmal über Müdigkeit. Zeig nie, daß es dir schlecht geht. Wenn du stark sein willst, mußt du dulden und schweigen lernen.
     Niemand darf wissen, was du fühlst, woran du denkst, welche

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