Keiner wird weinen
›Hmhm!‹.«
»Ach, du armes Mädchen!« Vera schüttelte den Kopf. »Was du dich immer über deine Eltern beklagst! Man könnte meinen, es geht
dir schlecht.«
»Nein, das sage ich ja gar nicht. Mama versteht eben bloß meine Schulprobleme nicht. Sie hat auf alles nur eine Antwort: Lies
vernünftige Bücher, benutze deinen Kopf, und verplempere deine Zeit nicht mit Blödsinn.«
»Na ja, da hat sie doch ganz recht«, meinte Vera lächelnd. »Es ist wirklich schade, seine Zeit mit Blödsinn zu verplempern.«
»Und wenn man dem Blödsinn und Mist nun mal nicht ausweichen kann?« Sonja seufzte tief. »Weißt du, wie kompliziert die Verhältnisse
in unserer Klasse sind?«
Das Mädchen ging in dieselbe Englisch-Spezialschule, die bereits Tanja und Vera besucht hatten. Mitte der siebziger Jahre
waren Kinder dort nur nach einer schwierigen Prüfung aufgenommen worden. Natürlich hatte es auch viele »mit Beziehungen« gegeben.
Die Schule galt als eine der besten in Moskau, dorthin schickten Minister, bekannte Schauspieler und Parteifunktionäre ihre
Kinder und Enkel. Aber es gab auch einen großen Prozentsatz von Kindern aus ganz normalen Familien. In der Schulgarderobe
hingen neben düsteren karierten Mänteln aus dem Kinderkaufhaus kanadische Schafpelze und farbenfrohe Daunenjacken. In der
großen Pause holten die Kinder ihre Pausenbrote aus der Tasche. Bei dem einen war bestenfalls Fleischwurst drauf, ein anderer
aß jeden Tag schwarzen Kaviar, Lachs und die besonders rare und begehrte Räuchersalami. Aber die Wurst und die Schafpelze
waren nicht das entscheidende. Manche Lehrer zerflossen förmlich vor überschwenglicher Hochachtung und übertrugen die Bewunderung
für die berühmten Eltern auf deren Kinder. Vera erinnerte sich bis heute, wie die Literaturlehrerin in der achten Klasse,
als sie die Aufsätze zurückgab, einmal gesagt hatte: »Wanjas Großvater ist Verdienter Schauspieler des Volkes, trotzdem ist
Wanja ein ganz normaler Junge. Achtundzwanzig Rechtschreibfehler im Aufsatz. Aber für den Inhalt eine Eins. Wanja hat Petschorin
ganz richtig als überflüssigen Menschencharakterisiert, als typischen Vertreter der parasitären Adelsschicht, und herausgearbeitet, daß seine Enttäuschung aus seiner
fehlenden klaren gesellschaftspolitischen Haltung resultiert.« Diese Geschichte wurde zur Anekdote. Der arme Wanja bekam seitdem
immer wieder zu hören: »Nein, so was, der Enkel eines Verdienten Schauspielers des Volkes, und trotzdem ein ganz normaler
Junge!«
Natürlich passierten auch weniger lustige Geschichten. Doch im Grunde wurden sie nie in Kinder erster und zweiter Klasse unterschieden.
Die Zensuren wurden nach Leistung verteilt, nicht nach Stellung der Eltern. Die Kinder und Enkel von Ministern verzehrten
ihr Pausenbrot mit Kaviar still und bescheiden oder zusammen mit ihrem Banknachbarn, auf dessen Brot simpler Schmelzkäse war
– der dem an erlesene Spezialitäten gewöhnten Kind mitunter besser schmeckte als Kaviar.
Aber das alles war Vergangenheit.
Heutzutage konnte man einen Platz in der Englisch-Schule einfach kaufen. Damit ein Kind angenommen wurde, mußte man ein Jahr
zuvor zwei, drei Lehrer der Schule für Nachhilfestunden engagieren und dafür sorgen, daß am Ende des Jahres jeder mindestens
zweitausend Dollar verdient hatte.
Hatten die Eltern einen direkten Draht zum Direktor oder dessen Stellvertreter, verminderte sich der Einstiegsbetrag um die
Hälfte. Dann drückte man dem Betreffenden nur ein Kuvert mit zwei-, dreitausend Dollar in die Hand, und das Kind bestand die
Aufnahmeprüfung. Aber dafür brauchte man selbstverständlich eine persönliche Empfehlung.
Später hingen die Zensuren der Kinder von den Geschenken ab, die die Eltern den Lehrern zu Feiertagen machten, zum Ersten
Mai und zum Lehrertag, zu Ostern und zu Weihnachten.
Daß Sonja die Aufnahmeprüfung ohne Bestechung bestanden hatte, war eine erstaunliche Ausnahme. Zwei derLehrerinnen in der Prüfungskommission erinnerten sich noch an ihre Mutter, die kluge, begabte Tanja Sokownina. Doch Tanja
bedauerte schon bald, daß sie ihre Tochter auf ihre geliebte Spezialschule geschickt hatte. Die Lehrer waren fast komplett
neu, das Niveau sank stetig.
Sonjas Klassenkameraden wurden im Ford oder BMW von der Schule abgeholt. Sonjas Eltern besaßen kein Auto. Das tägliche Taschengeld
dieser Kinder war höher als das Monatseinkommen eines Arztes oder Ingenieurs. Sonjas
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