Keinesfalls Liebe (German Edition)
Michael Greys eigener Duft stieg mir in die Nase. Die Panik raubte mir den Atem.
„Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich mit diesem Wissen gehen lasse, ohne dir zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass du schweigst?“, lachte er – beinahe mitleidig. „Nein, nein, Jonas. Das kann ich nicht zulassen.“
Ich stemmte mich gegen ihn, versuchte mich aus seinem stahlharten Griff zu lösen, aber meine Hand bewegte sich um keinen Millimeter. Die Glasflaschen in der Tüte klirrten, als sie aneinanderstießen.
„Lassen Sie mich los!“, schnaufte ich.
„Du hast die Wahl.“
Ich erschauerte, so kalt durchbohrten mich seine Augen. Sein Mund war nahe an meinem, und plötzlich küsste er mich. Ich zuckte aufkeuchend vor ihm zurück.
„Loslassen!“ Meine Stimme war nicht mehr als ein zutiefst verängstigtes Wispern. „Sofort!“
„Also“, murmelte er, wieder sehr nah an meinem Mund. „Du kommst jetzt mit mir, und du wirst mit mir schlafen. Dann darfst du gehen. Aber wenn du zur Polizei gehst, fange ich dich wieder ein, und wir machen es noch mal, und danach bringe ich dich um.“ Warm zupften die vollen Lippen an meinen.
Seelensplitter
Ich wich vor diesen Lippen zurück, doch Greys Griff war zu fest; bald war er wieder nah genug, um meinen Mund mit seinem zu berühren.
„Ich warte“, hauchte er.
Ich war außerstande, irgendetwas zu sagen. Ich konnte nicht begreifen, dass dieser Moment real war. Es durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. In was war ich hineingeraten?
„Lass ihn los.“
Mein Herz machte einen gewaltigen Satz; halb vor Freude und Erleichterung – und halb vor Verwunderung und Entsetzen. Ich kannte diese Stimme. Aber ich hätte nie erwartet, sie so etwas sagen zu hören.
Michael Grey verzog das Gesicht, seufzte tief und drehte sich zu seinem Pflegesohn um. Ich hatte mich noch nie so gefreut, Ryan zu sehen. „Söhnchen! Wie schön, dich zu sehen.“ Er hielt immer noch mein Handgelenk umklammert. „Das ist Jo, hab ich recht?“
Ryan zuckte nicht mit den Wimpern, als er tonlos erwiderte: „Richtig.“
„Wir haben uns nur ein wenig unterhalten, nicht wahr, Jo?“, sagte er und schaute mich wieder an; jetzt, da Ryan ihn nicht sehen konnte, schienen aus seinen unnatürlich gefärbten Augen Drohungen herauszuströmen wie ein reißender Fluss.
„J-ja“, flüsterte ich. Die Angst ließ nach. Irgendetwas sagte mir, dass Ryan selbst mir nichts tun würde.
„Pass auf, Kleiner“, knurrte Michael Grey, so leise, dass selbst ich es nur geradeso hörte. „Du hast Glück gehabt. Ich werde ausnahmsweise darauf verzichten, dich mit mir mitzunehmen. Lass dir eines gesagt sein, Jo: Wenn du plauderst, ficke ich dich zum Teufel.“
„Ich glaube nicht an den Teufel“, knurrte ich zurück, aus einem Impuls trotzigen Muts heraus. „Aber ich hab verstanden.“
„Wenn nicht, finde ich das heraus.“ Langsam lockerte er seinen Griff – er wollte mich nicht loslassen. Er wollte mich.
„Komm her zu mir, Jo.“ Ryans Stimme klang unbewegt.
Ich hatte nichts zu verlieren und zog meinen Arm zurück, bis er wieder meiner Kontrolle unterstand. Dann stürzte ich auf Ryan zu und trat halb hinter ihn. Von meiner neuen Position aus fixierte ich Michael Grey, der seinem Pflegesohn charmant zulächelte.
„Bis morgen beim Frühstück“, säuselte er, ein unangenehmes Funkeln in den roten Augen. Er ging davon, in Richtung der Straße, die Thompson überquert hatte, und verschwand um eine Ecke.
Regungslos starrte Ryan ihm hinterher. Das verängstigte Zittern, der Schreck und der Schock der unbegreiflichen Situation ließen langsam nach.
„Ryan …?“
Er reagierte nicht.
„Ryan …“
„Ich entschuldige mich für meinen Vater“, sagte er plötzlich. Er drehte sich um, damit er mich anschauen konnte. Sein Blick war nachdenklich, er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und zwei senkrechte Sorgenfalten zwischen ihnen.
„Das – das ist o…“, stammelte ich, aber okay war es nicht, und ich hielt kurz inne. „Ich meine, danke, Ryan. Ich glaube, du hast mir gerade … hm, den Arsch gerettet.“
Ryan schnaubte halb verärgert und halb belustigt. „Ich denke ja.“
„Du hast nichts gegen ihn in der Hand, stimmt’s?“, fragte ich leise.
„Natürlich nicht. Glaubst du, er würde dann noch durch die USA geistern? Er hätte hier schon tausendmal die Todesstrafe bekommen. Ich hatte schon tausendmal die Gelegenheit, ihn eines Verbrechens zu überführen. Es ist immer … etwas dazwischen
Weitere Kostenlose Bücher