Kellerwelt
Siedlung war ihr noch nie jemand begegnet. Doch seit alles
erforscht war, redeten plötzlich alle von diesen Streunern, die sich angeblich
in den Korridoren herumtrieben.
Wenn sie sich recht
erinnerte, dann hatte noch niemand direkt mit einem Streuner zu tun gehabt. Es
gab nur eine Menge Geschichten von Leuten, die jemanden kannten, der einen
Kumpel hatte, der meinte, er habe von jemanden gehört,
der von einem Streuner überfallen wurde.
Wahrscheinlich gab es überhaupt
keine Streuner. Wahrscheinlich langweilten sich die Leute in der Siedlung nur.
Deswegen erfanden sie irgendwelche Geschichten, damit es ein bisschen spannend
blieb.
Aber nun hatte auch noch der
Chef von diesem Thema angefangen. Er hatte ihr sogar eine Kanone gegeben. Das
hatte er wirklich toll gemacht. An jeder Ecke fürchtete sie nun, einem Streuner
zu begegnen. Deswegen hatte sie mehr als einmal gezögert, bevor sie eine
Abzweigung genommen hatte.
Außerdem glaubte sie
dauernd, irgendwelche Geräusche wahrzunehmen. Wenn sie dann stehen blieb und
ihren Atem anhielt, hörte sie nur die üblichen Geräusche - und ihren eigenen
Herzschlag. Sie verlor auf diese Weise eine Menge Zeit. Da hatte ihr der Chef
einen schönen Floh ins Ohr gesetzt.
Und dann gab es auch noch
die Geschichten über die Knochenkauer. Es hieß, sie würden in den Katakomben
hausen und sich gegenseitig auffressen. Sie hätten nichts mehr zu essen, weil
sie gegen die Regeln verstoßen hatten. Das war eine echt abgedrehte Geschichte.
Der letzte Kerl, den sie aus
dem Loch gezogen hatte, hatte auch solche komischen Storys erzählt. Und der
hatte noch mehr verrückte Sachen auf Lager gehabt. Da seien irgendwelche Tiere
hinter ihm her gewesen, während er durch die Kanalisation geflüchtet war.
Sie wollte gar nicht recht
an all dieses Zeug glauben. Wenn es dort unten irgendwelche Tiere gab, dann
wären die ja sicherlich schon längst durch das Loch nach oben gekommen. Und die
Knochenkauer hätten bestimmt auch einen Weg hierher gefunden. Sie hatte aber
noch nie einen Knochenkauer hier oben gesehen. Genau genommen hatte sie außer
den Leuten in der Siedlung hier oben überhaupt noch niemanden gesehen. Trotzdem
schleppte sie diese Geschichten mit sich herum und ließ sich von ihnen
ausbremsen. Das machte sie ziemlich sauer.
Dieses dumme Orakel machte
es ihr auch nicht gerade leichter. Es redete immer merkwürdiges Zeug daher.
Lauter Fragen, auf die es keine Antworten gab. Und wenn man sich über solches
Zeug den Kopf zerbrach, dann konnte man leicht unachtsam werden und sein Leben
verlieren.
Genau das war ihr vor kurzem
beinahe in der Maschinenzone passiert. Sie war tatsächlich aus dem Rhythmus
gekommen und von einer Spinne überrascht worden. Im allerletzten Moment hatte
sie sich verstecken können. Die Spinne war vorbeigezogen, ohne sie zu
entdecken. Es war unglaublich knapp gewesen - und alles nur, weil sie über die
Einstiche in ihren Armen nachgedacht hatte.
Schuld an allem war aber
nicht das Orakel. Es waren auch nicht die Knochenkauer oder die Streuner.
Schuld war nur dieser Kerl, den sie aus dem Loch ziehen sollte. Würde es ihn
nicht geben, dann hätte sie diesen Auftrag niemals bekommen. Dann könnte sie
jetzt in der Siedlung nach einem neuen Quartier suchen, um sich ein wenig
hinzulegen.
Sie war ziemlich sauer auf
diesen Kerl - wer immer er auch sein mochte. Sie hoffte, er schaffte es nicht.
Dann musste sie sich wenigstens nicht mit ihm herumschlagen.
Immerhin hatte sie nun die
Halle mit dem Loch erreicht. An der Tür zögerte sie kurz. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt weit und spähte in die Halle. Im
Grunde erwartete sie nicht, hier drin irgendjemanden oder irgendetwas
anzutreffen. Die beiden anderen Male, als sie hier gewesen war, hatte sie auch
niemanden getroffen. Dennoch gingen ihr die Geschichten über die Knochenkauer
oder die Dinger aus der Kanalisation nicht aus dem Kopf.
Das war alles nur
Schwachsinn! Dort unten in der Kanalisation gab es überhaupt nichts, bis auf
die Einbildung der Leute, die dort herumliefen. Und wenn es doch etwas gab,
dann kam es nicht nach oben. Schließlich hatte sie bei ihrem ersten Besuch viel
Zeit neben dem Loch verbracht, als sie auf ihre Zielperson gewartet hatte. Sie
hatte sogar hier geschlafen. Als sie aufgewacht war, war der Drang, noch weiter
hier auszuharren, komplett verschwunden gewesen. Da hatte sie gewusst, es würde
niemand mehr kommen. Und es war auch sonst nichts aus dem Loch gekommen, um sie
aufzufressen
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