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Kellerwelt

Kellerwelt

Titel: Kellerwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Peter Henning
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blockierte den gesamten Korridor.
Auch die Kleine erschrak und schrie kurz auf.
    Und dann, noch bevor er
Gelegenheit zum Nachdenken fand, hatte er bereits seine Waffe gezogen und sich
auf die Gestalt gestürzt. Mit seiner linken Hand umklammerte er die Kehle der
Figur, mit der rechten presste er die Mündung der Waffe gegen ihre Stirn. Ein
Teil seines Gehirns konnte der Geschwindigkeit, mit der diese Aktion abgelaufen
war, nicht folgen. Ein anderer Teil war recht zufrieden mit der prompten
Reaktion. Er entschied, diesem zweiten Teil seines Gehirns zu vertrauen und ihn
gewähren zu lassen.
    „ Du sagst mir jetzt sofort,
wer du bist und was du von uns willst."
    Wie er erkannte, handelte es
sich bei dieser Gestalt um einen Mann mit einem Bart und einer struppigen
Mähne. Im ersten Moment glaubte er, ein weiterer Menschenfresser sei ihnen
gefolgt. Doch irgendetwas an diesem Mann hier wirkte zivilisierter, als es bei
den Kannibalen der Fall gewesen war.
    Bevor der Mann dazu kam, die
Frage zu beantworten, meldete sich die Kleine aus dem Hintergrund: „Den kannst
du loslassen. Das ist das Orakel. Der gehört zu uns."
    Er sah den Mann an. Ein
völlig verkommenes Subjekt, dem der Irrsinn aus den Augen sprühte. Außerdem
stank dieser Kerl wie der Raum, den er gemeinsam mit der Kleinen als Latrine
benutzt hatte. Ein bedauernswertes Subjekt.
    Doch er konnte diesem Mann
helfen - und zwar mit einer saftigen Abreibung. Wer sich derart verkommen ließ,
dem gehörte schon aus Prinzip eins auf die Schnauze. Deswegen wollte er den
Kerl nicht loslassen.
    Doch schließlich zwang er
sich dazu, den Burschen wieder freizugeben. Er wollte sich in dieser Siedlung
nicht einführen, indem er einen der Bewohner verprügelte. Er ließ es sich aber
nicht nehmen, den Kerl gegen die Wand zu schleudern wie einen Lumpensack.
    „ Ich dachte, das sei einer
dieser Kannibalen", sagte er zur Kleinen. „Wieso nennt ihr diesen Penner
das Orakel?"
    Die Kleine bemühte ihre
typische Geste - ein Schulterzucken. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil der immer
so komisches Zeug redet, das keiner versteht."
    Noch bevor er dazu etwas
sagen konnte, meldete sich das Orakel zu Wort: „Ein Mann in Schwarz in unseren
Reihen", lispelte es. „Als hätten wir mit dem einen nicht schon genug. Und
dann auch noch mit einer Pistole im Gepäck. Ist das jetzt das große Duell?
Werdet ihr euch jetzt gegenseitig aus dem Weg räumen?"
    Er musste der Kleinen
zustimmen: Er verstand nicht ein einziges Wort von dem, was dieses Orakel
stammelte. „Was? Mann in Schwarz? Was willst du?"
    „ Schwarz", sagte die
Kleine. „Du trägst schwarze Klamotten. Genau wie der Chef. Das mit den Farben
hat irgendwas zu bedeuten. Ich bekomme immer braune Klamotten, weil ich eine
Pfadfinderin bin."
    „ Jetzt haben wir also schon
zwei Mörder in unserer schönen Siedlung", hechelte das Orakel unterdessen
weiter. „Hast du schon viele umgebracht, um hierher zu kommen? Waren es Frauen?
Oder waren es Kinder?"
    Die Kleine marschierte am
Orakel vorbei. „Lass uns hier verschwinden. Das müssen wir uns nicht
geben", sagte sie. „Hör einfach nicht auf das blöde Gequatsche. Das Orakel
ist total abgedreht und redet nur Blödsinn."
    Sie ließen den Mann hinter
sich. Nachdem sie einige Ecken und Abzweigungen passiert hatten, machte die
Kleine noch einmal Halt und wandte sich zu ihm um. „Noch was: Von jetzt an
werden uns noch viel mehr Leute begegnen. Die gehören alle zur Siedlung und
sind in Ordnung. Mehr oder weniger, jedenfalls. Also komm nicht auf die Idee,
dauernd deine Kanone rauszuziehen und die Leute blöd anzumachen, klar?"
    „ Wenn du meinst."
    Die Kleine behielt Recht:
Schon bald begegneten sie mehr und mehr Menschen in den Korridoren. Die Kleine
schritt dabei immer sicherer aus, ohne einen Blick auf die Karten zu werfen.
Dabei grüßte sie hin und wieder Leute, die sie offenbar kannte. Viele der
Menschen grüßten sie zuerst oder nickten ihr zu - und alle starrten ihn an.
Einmal hörte er jemanden hinter seinem Rücken von einem „Mann in Schwarz"
sprechen. Bei den Kleidern der Menschen, die er hier sah, gab es alle möglichen
Farben. Nur die Farbe Schwarz sah er ausschließlich bei sich selbst.
    Wie die Kleine erklärte,
bewegten sie sich gerade durch ein Gebiet mit Wohnquartieren. Viele Siedler
wohnten in festen Räumen. Dazu gab es noch eine ganze Reihe von Räumen zur
freien Auswahl, die von sogenannten „Springern" genutzt wurden. Diese
Siedler wollten sich nicht auf einen

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