Kellerwelt
damit beginnen, sich selbst Bisswunden
zuzufügen - und zwar an seinem Arsch.
Es hatte ihn eine Menge Zeit
gekostet, die Katakomben zu verlassen und bis hierher vorzudringen. Doch dies
alleine ärgerte ihn nicht. Es ärgerte ihn auch nicht, dass seine Zielperson
inzwischen Gelegenheit gehabt hatte, ihren Vorsprung auszubauen.
Vielmehr ärgerten ihn die
Gedanken, die ihm seit einiger Zeit durch den Kopf spukten.
Der Ausgangspunkt dieser
Fragen war die Flucht seiner Zielperson gewesen. Die Zielperson war aus den
Katakomben getürmt und hatte ihn abgehängt. Das alleine nervte ihn bereits
gewaltig. Doch noch viel mehr nervte ihn die Tatsache, dass die Zielperson
einen Weg hatte nehmen können, den er nicht benutzen konnte.
Er wusste nicht, wie so
etwas sein konnte. Er war ein Entsorger. Er verkörperte in dieser Welt das
Recht, die Ordnung und die Gewalt, beides durchzusetzen. Doch er wusste, er
konnte seiner Zielperson nicht folgen. Wäre er durch diesen Durchgang
geschlüpft und den Treppenstufen nach unten gefolgt, dann wäre er gestorben -
dessen war er sich sicher.
Auf dem Boden dieser
Gewissheit gedieh allmählich die Frage, wie das Management etwas Derartiges
hatte zulassen können? Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte er das Management
enttäuscht? Wurde er deswegen nun bestraft?
Oder war es wegen der
Kinder?
Seit er die Katakomben
verlassen hatte, hatte er immer wieder an die Kinder gedacht. Deswegen hatte er
noch mehr Zeit verloren. Schließlich musste er an jeder Ecke sorgfältig prüfen,
ob dort Kinder auf ihn lauerten.
Irgendwann fragte er sich,
weswegen er sich vor den Kindern fürchtete. Die Antwort war ihm leicht
gefallen: Weil ihm die Kinder eine Niederlage zugefügt hatten. Wegen der Kinder
hatte er eine Aufgabe nicht erfüllt. Noch schlimmer: Er war von einem dieser
Bälger auch noch gedemütigt worden.
Dies alles wusste er, doch
er konnte sich nicht mehr an die genauen Geschehnisse erinnern. Er wusste
nicht, was passiert war und er wusste nicht, wo es passiert war. Doch er
wusste, dass sein Versagen einen Makel in seinem Lebenslauf darstellte.
Aus diesen Gedanken hatte
sich eine weitere Frage ergeben: Weswegen konnte er sich nicht erinnern?
Diese Frage hatte eine ganze
Lawine an Zweifeln in ihm ausgelöst. Hatte er tatsächlich versagt? Bestrafte
ihn das Management nun? Würde er seinen Status als Entsorger verlieren? Würde
er am Ende selbst zu einem Dissidenten werden? Oder gar zu einem Knochenkauer?
Zuletzt hatte er in
einem Korridor gestanden und die Mündung seines AKS-74U angestarrt. Sein Finger
hatte am Abzug gelegen und er hatte darauf gewartet, dass ihm die Mündung
zublinzelte. Doch er hatte sein geistiges Gleichgewicht rechtzeitig
zurückerlangt und den Druck auf den Abzug verringert. Stattdessen hatte er zu
seinem Allheilmittel gegriffen: dem Sichtgerät. Dieses Vorgehen war ihm weniger
endgültig erschienen. Zwar genauso schmerzhaft wie ein Steckschuss in der
Großhirnrinde, aber weitaus weniger endgültig.
Er hatte den Knopf gedrückt und
das Sichtgerät hatte alle Zweifel und alle Fragen aus seinem Kopf geblitzt. Als
er wieder zu sich gekommen war, hatte sein rechter Arm eine Weile lang nicht
richtig funktioniert. Außerdem hatte er Muskelkater am ganzen Körper gehabt.
Doch die Zweifel hatten ihn
nicht länger gequält. Keine Fragen mehr, keine Ängste. Das Sichtgerät hatte
seine Gedanken wieder auf eine gerade Linie gebracht. So war ihm aufgegangen,
was geschehen sein musste: Das Management hatte ihn bestraft, weil er seine
Aufgabe nicht erfüllt hatte. Als Strafe hatten sie sein Gedächtnis gelöscht.
Sie hatten ihn ohne sein übliches Wissen und ohne nähere Informationen auf eine
besonders unangenehme Zielperson angesetzt, um ihn zu testen. So musste es
gewesen sein. Nun musste er lediglich seinen Auftrag erfüllen und das
Management wieder von seinen Fähigkeiten überzeugen. Mehr war nicht
erforderlich. Dann würde er sein gesamtes Wissen zurückerhalten und nicht mehr
die Schmerzen eines Downloads ertragen müssen.
Eigentlich hätte ihn diese
Erkenntnis beruhigen müssen. Stattdessen war er wieder völlig ausgetickt.
Niemand hatte etwas in seinem Kopf zu löschen. Niemand. Auch das Management
nicht.
Bei einem Dissidenten war
das natürlich etwas anderes. Dissidenten durfte man durchaus lobotomisieren. Insbesondere,
wenn man die Lobotomie mithilfe eines Stahlmantelgeschosses durchführte. Doch
am Gedächtnis eines Entsorgers hatte niemand etwas zu
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