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Kells Legende: Roman (German Edition)

Kells Legende: Roman (German Edition)

Titel: Kells Legende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Remic
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blitzten in ihrem Kopf auf. Sie spürte tief in sich ihr eigenes, pervertiertes, nicht funktionierendes Uhrwerk, die Maschinerie, die sie unrein machte, den Mechanismus, der sie anders werden ließ als die Vachine um sie herum – all das, was es ihr unmöglich machte, das Geschenk des Blutöls anzunehmen, welches die anderen am Leben erhielt, ihre Lust stillte und ihr Uhrwerk ölte. Sie spürte eine winzige, kaum wahrnehmbare Bewegung in ihrem Inneren. Etwas klickte in ihrer Brust, und ihr wurde schlecht. Die Welt um sie herum drehte sich; sie blickte zurück und sah, wie das kleine Mädchen sie beobachtete, einen merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht. Anukis senkte den Kopf, weil sie diesen Blick nicht zuordnen konnte, einfach nicht entziffern konnte, was er eigentlich bedeuten sollte …
    Ein eisiger Wind fuhr über die Straße, angereichert mit Schnee.
    Riesige, makellose Gebäude glitten wie in Trance an ihr vorbei. Die Vachine starrten ihr weiterhin nach, als Vashell stolz seine unterworfene, ihm völlig ausgelieferte Beute mitten über die Straße führte. Über ihnen, jenseits der Gebäude, erhob sich auf beiden Seiten das bedrückende, riesige Schwarzspitz-Massiv, schwarz und grau, mit weißen Gipfeln und weißen Flecken auf den mächtigen Flanken, die ab und zu von bunten, grünen Kiefernwäldern gesprenkelt wurden.
    Jetzt weiß ich, was dieser Blick bedeutet hat, dachte Anukis. Der Schnee peitschte ihr ins Gesicht, und sie erschauerte.
    In dem Blick hatte Freundschaft gelegen, Erinnerung; es war ein Blick gewesen, der auf eine Verbindung hinwies. Sie kennt mich, dachte Anukis, aber ich kenne sie nicht. Wie kann das sein? Was hat das zu bedeuten? Woher kommt sie?
    Die mit Metall gepflasterte Straße fiel ungeheuer steil zum Dock der Ingenieure ab. In der Ferne hörte sie, wie der Silva gegen das Hafenbecken schlug. Vashell beschleunigte unwillkürlich wegen des Gefälles seine Schritte, und Anukis musste laufen, um mit den langen Beinen des grausamen Ingenieurs Schritt zu halten. Dabei dachte sie weiterhin über das blonde Mädchen und diesen merkwürdigen, erkennenden Blick nach …
    Noch ein Rätsel, dachte sie.
    Ein weiteres Mysterium.
    In ihr fuhr derweil der Mechanismus fort, seltsame Dinge zu tun. Sie spürte ein merkwürdiges Surren, Zahnräder, die sich drehten und ineinandergriffen, aber es fühlte sich anders an als alles, was sie zuvor empfunden hatte. Vielleicht sterbe ich ja, dachte sie amüsiert. Vielleicht hat man mir eine Bombe eingebaut? Was auch immer das sein mochte, ihr war jedenfalls übel bis ins Mark ihres Vachine-Daseins.
    Sie erreichten den Hafen, in dem rege Geschäftigkeit herrschte. Messingbarken wurden be- und entladen, und Vashell führte Anukis zu einem langen, schlanken Kahn. Sie gingen über eine schmale Planke an Bord des Schiffes und blieben einen Augenblick auf dem Deck stehen, bevor sie in eine prunkvolle Kabine hinabstiegen, die einem Ingenieur angemessen war. Vashell band Anukis’ Leine an einen Haken und sicherte sie mit einer Öse, die klickend einrastete. Wut stieg in Anukis hoch; sie fühlte sich wie ein Hund.
    »Ich will nicht, dass du versuchst zu flüchten«, sagte Vashell leise.
    »Fahr zur Hölle!«
    Vashell zuckte mit den Schultern und verschwand im Bug der Messingbarke. Nach wenigen Augenblicken spürte Anukis das rhythmische, pendelnde Summen der Uhrwerk-Maschinerie, und die Barke glitt vom Ingenieursdock weg und in die Mitte des ruhigen, flachen Flusses.
    Anukis seufzte und blickte durch ein rundes Bullauge nach draußen. Sie beobachtete, wie der Silva an ihr vorbeirauschte, glitzernd von Eis, während Vashell die Barke durch die Eisschollen und die kleinen, gekräuselten Wellen lenkte. Die Geräusche des Hafens blieben hinter ihnen zurück, bis nur noch das Summen der Maschine zu hören war. Die Barke nahm erst Kurs nach Norden, dann nach Nordosten, glitt am Eingang zu den Deshi-Höhlen vorbei, die sie mit unsichtbaren Strömungen anzuziehen schienen, mit süßen Versprechungen. Kommt zu mir, schienen die Höhlen zu rufen. Kommt und erforscht meine langen, gewundenen Tunnel. Ich verspreche euch Reichtümer, Ruhm, und Unsterblichkeit. Aber ja doch, dachte Anukis. All das und den Tod.
    Vashell lenkte das Boot in einen schmalen Seitenarm und steuerte es zwischen den stummen Bergwächtern hindurch. Die blanken Felswände glitten an ihnen vorbei, schwarz und schmutzig-grau. Nur wenige verkümmerte Bäume klammerten sich in ihrem Überlebenskampf in

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