Kells Rache: Roman (German Edition)
sich selbst zu retten.«
»Warum empfinde ich dann einen solchen Schmerz nicht?«, fuhr Nienna sie plötzlich scharf an.
Myriam zuckte nur mit den Schultern und starrte ins Feuer.
»Es war eine Lüge«, flüsterte Nienna. Sie riss die Augen auf, als sie plötzlich begriff. »Du hast ihm gesagt, ich wäre vergiftet worden, damit er hierherkommt! Das war … das war sehr böse!«
Myriam gab sich weiterhin unbeeindruckt. »Ich dachte, der Preis seines eigenen Lebens würde vielleicht nicht ausreichen. Du jedoch, mein süßes kleines Äpfelchen«, sie streckte die Hand aus und legte sie unter Niennas Kinn, »du bist kostbar genug für ihn, alles zu tun, um dich zu retten.«
Nienna schüttelte den Kopf und befreite sich damit aus Myriams Griff. »Du bist böse«, wiederholte sie und kniff die Augen zusammen.
Myriam stand auf und reckte sich. Sie bewegte ihre langen Gliedmaßen grazil und wirkte wahrhaftig wie eine Jägerin, eine Mörderin. »Vielleicht. Aber meine Prioritäten liegen bei mir selbst, also werde nur nicht zu hochfahrend, Kleine. Letzten Endes bist du einfach nur ein Unterpfand, und für mich bist du mehr wert als meine Seele.«
»Es muss wahrhaftig wild sein, in deiner Welt zu leben«, meinte Nienna, deren Miene sich drohend verfinstert hatte.
»Das ist es allerdings.« Myriams Gesicht verzog sich säuerlich. »Du bist herzlich eingeladen, ihr irgendwann einmal einen Besuch abzustatten.«
Sie ritten lange Stunden schweigend, und nur die Hufe ihrer Pferde trampelten laut über den festen Schnee. Gegen die mittlerweile erbarmungslose Kälte des eisigen Winters hatten sie sich in Decken und Felle gehüllt. Es war später Nachmittag, als sie aus dem Rand eines winterlich kahlen Laubwaldes hinausritten und die ganze Majestät des Schwarzspitz-Massivs vor ihnen emporragte. Sie hatten zwar in dem Waldgebiet bereits ab und zu einen Blick darauf erhaschen können, aber nichts hatte Nienna auf die ungeheure Erhabenheit der Schwarzspitzen vorbereitet.
In den Büchern und Geschichten war von mindestens dreitausend Gipfeln die Rede, jeder einzelne ein scharfer Zahn in einem gewaltigen Maul, welches das ganze Land in zwei Teile zerriss. Kein einziger Gipfel war unter siebenhundert Meter hoch, und viele erhoben sich mehr als zweieinhalbtausend oder gar dreitausend Meter in die Höhe. Dort oben war die Luft dünn, und Abgründe und Schluchten schienen bodenlos. Nur wenige Pfade führten in die Schwarzspitzen hinein, und von den Reisenden, die eine Route entdeckt hatten, kehrten nur wenige zurück. Angeblich hausten alle möglichen Kreaturen in diesen hallenden Tälern, in Höhlen und Tunneln und auf hohen, tödlichen Plateaus; zudem munkelte man, diese Kreaturen würden am besten im Reich der Fantasie belassen.
»Ziemlich … groß«, quetschte Nienna schließlich her vor. Die Ehrfurcht steckte ihr im Hals wie ein Pflaumenkern.
»Sie locken dich erst herein und spucken dich anschließend wieder aus«, erklärte Myriam und trieb ihr Pferd zu einem gemäßigten Galopp an. »Komm. Da vorn ist unser Ziel.«
Die zerklüftete Landschaft, die von Tausenden von scharfkantigen Felsen gesäumt zu sein schien, senkte sich zu einer uralten, schwarzen Festung hinab, die den Zugang eines Tales versperrte. Die Mauern waren schwarz und schienen im schwachen Licht der Nachmittagssonne zu glänzen. Sie woben sich durch dichtes Gras und unregelmäßig geformte Felsen, von denen viele größer waren als eine Kate, und erstreckten sich quer über das Land. Schließlich konnte Nienna diese winzige Spielzeugfestung in den richtigen Größenverhältnissen wahrnehmen. Die Festung Cailleach war gigantisch. Und sie war gründlich zerstört, das wurde Nienna klar, je näher sie ihr kamen. Sie erkannte allmählich die zahllosen Verwerfungen an der Festung. An einigen Abschnitten der riesigen Verteidigungsmauern klafften große Risse von den Zinnen bis zum Fundament, in anderen Bereichen hatten sich die Türme geneigt, und die ganze Struktur wirkte ein bisschen schief. Sie ritten näher heran, bis Myriam schließlich ihr Pferd zügelte und sie sich hinhockten, wie winzige Insekten auf eine gigantische Leinwand der Welt. Nienna begriff, dass die Festung Cailleach vor ihnen vollkommen … schräg war. Nichts daran war gerade. Keine Mauer, kein Turm, kein Durchgang, kein einziger Abschnitt der Zinnen und Bastionen.
»Angeblich«, Myriams beruhigendes Flüstern brach die unheimliche Stille, die, wie Nienna erschreckt bemerkte, sich wie eine
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