Kelwitts Stern
wieder zuzufahren und rissen dabei die Girlanden ab, die sie heute Morgen noch so sorgsam angebracht hatten.
»Ich brech’ ab!«, schrie Thilo. »Ein Hubschrauber! Sie kommen mit einem Hubschrauber!«
Sybilla öffnete die Haustür. Eine Flutwelle aus Lärm und wütenden, wilden Winden kam hereingeschossen. Der Hubschrauber musste direkt über dem Haus sein. Überall entlang der Straße stiegen dunkle Männer aus dunklen Limousinen.
»Kommt!«, rief Sybilla, aber man las es mehr von ihren Lippen, als dass man es hätte hören können. Sie stürzte hinaus. Der Rotorabwind riss an ihrem weiten Prophetinnenmantel, während sie auf ihren Überlebensbus zurannte. Die Männer kamen näher, im Laufschritt einige, und einige zückten Waffen.
»Ich komm’ gleich!«, schrie Thilo und drückte seiner Mutter die Tasche mit den Wasserflaschen in die Hand. Dann rannte er die Treppe ins Obergeschoss hoch.
»Thilo!?«, schrie Nora. »Lass das doch! Das hat jetzt auch keinen Zweck mehr!«
Sybilla hatte ihren Bus erreicht. Die Fahrertür schlug zu, der Motor heulte auf, sogar durch den ganzen apokalyptischen Lärm hindurch war das zu hören. Sie setzte zurück.
»Thilo!«, schrie Nora wieder.
Thilo tauchte wieder auf, stolperte die Treppe mehr hinab, als er rannte, und fiel nur wie durch ein Wunder nicht.
Zwei Männer kamen die Treppe aus dem Keller hoch. Auch sie hatten Waffen in den Händen.
»Thilo, verdammt noch mal …«
Sybilla gab Gas, überfuhr den Randstein und den Gartenzaun und durchpflügte die brachliegenden Blumenbeete und den Vorgarten bis unmittelbar vor die offene Haustür. Es schien endlos zu dauern, bis Kelwitt, Thilos Mutter und schließlich Thilo selber im Wagen waren. Die Tür war noch nicht wieder zu, als sie das Pedal bis zum Boden durchtrat und mit durchdrehenden Reifen auf die Straße zurückfuhr. Die dunklen Männer, die von überallher kamen, hielten nun alle Revolver in den Händen, und alle rannten sie. Aus dem weißen Lieferwagen gegenüber sprangen Männer mit Gewehren. Der Hubschrauber über ihnen senkte sich herab wie die Rache Gottes. Wenn sie dieser Übermacht entkommen wollten, dachte Sybilla, dann musste jetzt ein Wunder geschehen.
Der Verkauf von Feuerwerkskörpern für Silvester war nur eines der Geschäftsfelder der Firma Mattek, wenn auch das bei weitem ertragreichste. Ein anderes, anspruchsvolleres Geschäftsfeld war die Belieferung und Ausrichtung von großen Feuerwerken, die während des Jahres anlässlich von Volksfesten oder Rockkonzerten, in Freizeitparks und Freilichtbühnen stattfinden.
Solche Feuerwerke bedürfen der behördlichen Genehmigung, und sie werden in der Regel von ausgebildeten Pyrotechnikern vorbereitet und durchgeführt. Um ein großes, durchorchestriertes Feuerwerk abzubrennen, benutzen diese Leute eine Reihe von modernen technischen Hilfsmitteln, die dem Normalbürger, der an Silvester ein paar Chinaböller und Brillantraketen abfeuert, nicht zur Verfügung stehen. Auch diese technischen Hilfsmittel stellte die Firma Mattek her, und natürlich hatte Wolfgang Mattek, selber ausgebildeter und geprüfter Pyrotechniker, all diese Geräte auch bei sich zu Hause. Das alljährliche Silvesterfeuerwerk der Familie Mattek war, das verlangte die Ehre, ein halbstündiges, durchkomponiertes Himmelsspektakel nach dem letzten Stand der Pyrotechnik.
Der wichtigste technische Unterschied ist, dass professionelle Feuerwerkskörper nicht mit dem Streichholz, sondern elektrisch gezündet werden. Wenn ein großes Feuerwerk beginnt, stehen Hunderte von kleinen und großen Raketen in speziellen Ständern aufgereiht, und eine computerisierte Steuereinheit schießt jede von ihnen zu einem festgelegten Zeitpunkt völlig automatisch ab. Wolfgang Mattek pflegte die am Vortag vorbereiteten Ständer eine halbe Stunde vor Mitternacht auf den Rasen hinauszustellen, die Zeitschaltuhr der Steuerung zu starten und dann mit seinen Gästen und einem Glas Champagner in der Hand zum Jahreswechsel auf den großen oberen Balkon zu treten, um mit ihnen das farbenprächtige Schauspiel zu genießen, das wie von selbst ablief.
Was Thilo und Nora getan hatten, war, die Raketenbatterien auf den oberen Balkon zu stellen und den Zeitablauf des Programms so zu verändern, dass das für eine halbe Stunde geplante Feuerwerk in drei Minuten abgefeuert wurde. Damit, so hatten sie sich überlegt, konnte man im Notfall um Hilfe rufen oder zumindest das Auftauchen von Polizei bewirken.
Was Thilo getan hatte,
Weitere Kostenlose Bücher