Kelwitts Stern
deiner Familie bleiben muss?«
»Ich habe sie von meinem Onkel geerbt, und natürlich will ich sie innerhalb der Familie weitergeben …«
»Völlig antiquiertes Denken«, konstatierte Lothar Schiefer. »Entschuldige, aber so ist es. Du machst dir nur unnötigen Stress damit. In Wirklichkeit hast du jede Menge Möglichkeiten. Du bist noch nicht so alt, als dass du Thilo nicht noch zwei, drei Jahre Bedenkzeit geben könntest. Oder auch Sabrina. Du kannst dir einen Partner suchen, einen Teil der Firma veräußern. Oder auch die ganze Firma und dich als Millionär zur Ruhe setzen.«
Mattek sah ihn an und begann dann langsam und bedächtig zu nicken, wie ein alter Mann auf einer Parkbank im Sonnenschein, der sein Leben noch einmal vor seinem inneren Auge vorüberziehen lässt.
Lothar Schiefer stieß den ausgestreckten Zeigefinger auf sein Knie, als wolle er ein Loch hineinbohren. »Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es ist allerhöchste Zeit, an der Börse wieder einzusteigen. Spätestens im Januar, wenn alle gemerkt haben, dass das Leben weitergeht, ziehen die Kurse wieder an.«
Matteks Blick schweifte durch die Fenster nach draußen, verlor sich im Lichtermeer der Stadt. »Welchen Einfluss hätte es eigentlich deiner Meinung nach auf die Aktienkurse«, fragte er nachdenklich, »wenn es zu einem Kontakt mit Außerirdischen käme?«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts«, meinte Mattek. »War nur so eine Frage.«
9
Als Thilo aufwachte, blieb er eine Weile mit halbgeschlossenen Augen liegen und spürte dem seltsamen Traum nach, den er geträumt hatte. Ein eigenartiger Traum war das gewesen, so real. Sie hatten einen Außerirdischen zu Besuch gehabt, ein Wesen mit feuchter, graublauer Haut und großen, schwarzen Augen. Und sie hatten den ganzen Tag damit verbracht, ihm Bücher und Videos zu zeigen, um ihm zu helfen, ihre Sprache zu erlernen …
Er schlug die Augen auf. Es war hell. Hell und still. Das war doch ein Traum gewesen, oder? Er wälzte sich herum und studierte die Ziffern auf seinem Radiowecker. Elf Uhr dreißig, am Sonntag, dem 19. Dezember 1999. Ein Traum? Plötzlich war er sich da nicht mehr so sicher. Er setzte sich auf. Draußen hing diesiges Grau über der Welt. Ein sachter Wind bewegte die dürren schwarzen Äste vor seinem Fenster hin und her wie Gespensterfinger.
Scheiße, nein, das war alles wirklich passiert. Oder? Er zerrte seinen Morgenmantel unter einem Berg miefiger Socken und waschbedürftiger Unterhosen hervor und wickelte sich hinein. Bloß cool bleiben jetzt.
Als er die Treppe herunterkam, spähte er als Erstes ins Wohnzimmer. Auf der Couch saß seine Mutter und las in einer Zeitschrift. Der Segeltuchsessel stand leer und verlassen und sah aus wie immer, bis auf zwei gelbe Gummihandschuhe, die rechts und links über den Lehnen hingen und reichlich absurd aussahen.
Also doch kein Traum. Krass. »Wo ist Kelwitt?«, fragte er.
Seine Mutter sah auf und runzelte die Stirn. »Guten Morgen«, sagte sie demonstrativ. »Zivilisierte Menschen wünschen sich zuallererst einen guten Morgen.«
Thilo seufzte, ging drei Schritte rückwärts und tat dann so, als sei er Darsteller in einer unsäglichen Daily Soap, dem der Regisseur gesagt hatte, er müsse die Szene, wo er ins Wohnzimmer komme, noch einmal von vorn anfangen: »Guten Morgen, liebe Mutter!«, deklamierte er. »Oh – wo ist denn Kelwitt?«
»Bei Sabrina im Zimmer«, antwortete seine Mutter.
»Sabrina? Ist die etwa schon auf?«
»Sie muss heute in aller Frühe aufgestanden sein. Ich glaube, sie und Kelwitt haben sich schon Videos angesehen. Jedenfalls ist ein großer nasser Fleck vor dem Fernseher, und ein paar Kassetten mit wissenschaftlichen Sendungen liegen draußen. ›Die Wüste lebt‹ und so was.«
»Und Papa? Schon wieder in der Firma, schätze ich.«
»Ja.«
»Verrückt.«
Sie sah ihn verweisend an. »Ich möchte nicht, dass du so über deinen Vater redest. Das weißt du.«
»Ach, komm!«, protestierte Thilo. »Was muss eigentlich passieren, dass der mal an was anderes denkt als an seine blöde Firma?«
»Wenigstens einer muss ja an die Firma denken.«
»Hey – wir haben einen Außerirdischen zu Besuch! Einen gottverdammten Außerirdischen – und alles, was meinen Vater interessiert, sind die Verkaufszahlen seiner blöden Silvesterraketen!«
»Wir leben von diesen blöden Silvesterraketen. Vergiss das nicht.«
»Ach, scheiß doch drauf. Wir könnten alle tot sein, und er würde nach dem Begräbnis ins Büro
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