Kennedys Hirn
sagen, was sie dachte.
»Er wurde in seiner Wohnung ermordet.«
»In Barcelona?«
Die Eifersucht packte sie. Warum hatten alle mehr gewußt als sie? Sie war schließlich seine Mutter und hatte ihn aufgezogen, bis er sich aufgerichtet hatte und in sein eigenes Leben hinausgetreten war.
Eine Einsicht streifte sie. Er hatte immer gesagt, daß er sie schützen würde, was auch geschähe. War es das, was er getan hatte, indem er nicht von der kleinen Wohnung in der »Christus-Sackgasse« erzählte?
»Was geschah, weiß niemand. Ich versuche, es herauszufinden, indem ich seine Spuren verfolge.«
»Und die haben Sie hierhergeführt?«
»Weil er hiergewesen ist. Sie haben sein Gesicht gemalt, und ich glaube, Sie haben ihm das gleiche erzählt wie mir.«
»Er hat danach gefragt.«
»Wie kam er darauf, daß Sie etwas wußten?«
»Gerüchte.«
»Jemand muß ihm von Ihnen erzählt haben. Und Sie müssen etwas erzählt haben. Gerüchte zu verbreiten ist eine menschliche Kunstform, die Geduld und Kühnheit erfordert.«
Da er nicht antwortete, ging sie weiter.
Die Fragen ergaben sich von selbst, ohne daß sie danach suchen mußte. »Wann war er hier?«
»Es ist noch nicht so lange her. Ich habe das Bild kurz danach gemalt. Bevor der Regen begann, wenn ich mich recht erinnere.«
»Wie ist er hergekommen?«
»Wie Sie. Mit dem Oberst und seinem Jeep.«
»War er allein?«
»Er ist allein gekommen.«
Stimmte das? Louise zweifelte. Gab es nicht eine unsichtbare Gestalt an Henriks Seite?
Adelinho schien verstanden zu haben, warum sie verstummt war. »Er kam allein. Warum sollte ich es nicht so sagen, wie es war? Man ehrt nicht das Gedenken an einen Toten, indem man an seinem Grab lügt.«
»Wie hat er Sie gefunden?«
»Durch meinen Freund Doktor Raul. Er war stolz auf seinen Namen. Sein Vater, der auch Raul hieß, war an Bord des Schiffes - ich weiß nicht mehr, wie es hieß -, das Fidel und seine Freunde nach Kuba brachte, die den Befreiungskampf einleiteten.«
»Granma.«
Er nickte.
»So hieß das Schiff. Es war leck und drohte zu sinken, die jungen Männer litten an Seekrankheit, es muß ein betrüblicher Anblick gewesen sein. Aber er war trügerisch. Einige Jahre später hatten sie Batista und die Amerikaner in die Flucht geschlagen. Aber sie sagten nicht >die Amerikaner< sie sagten >Yankees<. Yankees Go Home. Es wurde ein Schlachtruf, der um die Welt ging. Heute liegt unsere Regierung vor diesem Land im Staub. Aber es kommt der Tag, an dem wir die Wahrheit hervorzwingen werden. Wie sie den Belgiern und auch den Portugiesen dabei geholfen haben, uns zu Boden zu drücken.«
»Wie hatte Henrik Doktor Raul gefunden?«
»Doktor Raul ist nicht nur ein fähiger Gynäkologe, den die Frauen lieben, weil er sie mit Respekt behandelt. Er ist auch ein brennender Geist, der die großen Arzneimittelunternehmen und ihre Forschungslaboratorien haßt. Nicht alle, nicht überall. Auch in dieser Welt findet sich der brutale Gegensatz zwischen gutem Willen und Habgier. Der Kampf endet nie. Aber Doktor Raul sagt, daß die Habgier an Boden gewinnt. Zu jeder Sekunde des Tages rückt die Habgier vorwärts, verschiebt ihre Positionen. In einer Zeit, in der es Milliarde um Milliarde Dollar und Meticais erlaubt ist, nach Belieben Amok zu laufen, stets auf der Jagd nach dem grünsten Gras, ist die Habgier im Begriff, die Welthegemonie zu erringen. Ein schweres Wort, das ich erst auf meine alten Tage gelernt habe. Jetzt richtet sich die Gier auf das kleine Virus, das sich wie eine Seuche über die Welt ausbreitet. Noch immer weiß niemand, wie es entstanden ist, obwohl man davon ausgehen kann, daß es ein Affenvirus ist, dem es gelungen ist, die Berggipfel der Immunität zu überklettern und in die Menschen einzudringen. Nicht um sie zu vernichten, sondern um das gleiche zu tun, was Sie und ich tun.«
»Was meinen Sie?«
»Überleben. Dieses kleine, ziemlich schwache Virus will nichts anderes, als überleben. Viren haben kein Bewußtsein, und man kann sie kaum beschuldigen, den Unterschied zwischen Leben und Tod zu kennen, sie tun nur das, wofür sie programmiert sind. Zu überleben, neue Virusgenerationen mit demselben Zweck zu schaffen, zu überleben. Doktor Raul sagt, daß dieses kleine Virus und der Mensch eigentlich auf je einer Seite vom Fluß des Lebens stehen und einander zuwinken sollten. Die Fahnen, die im Wind wehen, würden die gleiche Sprache sprechen. Überleben. Aber so ist es nicht, das Virus verursacht Chaos wie ein
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