Kennedys Hirn
gehen.
Als die Maschine auf dem heißen Asphalt landete, hatte sie sich entschieden. In Xai-Xai war Henrik für sie am deutlichsten gewesen. Dort hatte sie seine Nähe gespürt. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, zu Lars Häkanssons Haus zu fahren, um die Kleider zu wechseln. Sie rief auch Lucinda nicht an. Im Moment mußte sie allein sein. Sie ging am Flugplatz zu einem Mietwagenschalter, unterschrieb einen Mietvertrag und erhielt die Auskunft, der Wagen werde binnen einer halben Stunde gebracht. Wenn sie Maputo um drei Uhr verließe, würde sie Xai-Xai vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Während sie wartete, blätterte sie ein Telefonbuch durch. Sie fand mehrere Ärzte mit dem Namen Raul. Welcher der richtige war, konnte sie nicht entscheiden, weil keiner von ihnen als Gynäkologe aufgeführt war.
Auf dem Weg nach Xai-Xai hätte sie fast eine Ziege überfahren, die plötzlich vor dem Wagen auftauchte. Sie riß heftig das Lenkrad herum und war nahe daran, die Kontrolle über den
Wagen zu verlieren. Erst im letzten Augenblick fand eines der Hinterräder Halt in einem Schlagloch, und der Wagen blieb auf der Straße. Sie mußte anhalten und durchatmen. Der Tod hätte sie beinah gefangen.
Sie suchte die Abzweigung zum Strand in Xai-Xai und ging dort ins Hotel. Sie bekam ein Zimmer im Obergeschoß. Sie mußte lange mit der Dusche kämpfen, bis Wasser kam. Ihre Kleidung war verschwitzt. Sie ging zum Strand hinunter und kaufte eine capulana, ein Tuch, wie es die afrikanischen Frauen benutzen, um sich einzuhüllen. Dann wanderte sie am Strand entlang und dachte nach über das, was der Mann im Regen, der Delphinmaler, gesagt hatte.
Die Sonne verschwand. Die Schatten wurden länger. Sie ging zurück zum Hotel und aß im Restaurant. In einer Ecke saß ein Albino und spielte auf einer Art Xylophon. Der Rotwein schmeckte muffig, gepanscht. Sie ließ die Flasche stehen und trank statt dessen Bier. Über dem Meer leuchtete der Mond. Sie verspürte Lust, in den Streifen Mondlicht hinaus-zuwaten. Als sie in ihr Zimmer gekommen war, verbarrikadierte sie die Tür mit einem Tisch und schlief ein, die Füße in dem zerrissenen Moskitonetz verheddert.
Im Traum liefen Pferde durch eine winterliche Schneelandschaft. Artur stand mit unter der Nase gefrorenem Schnodder da und zeigte zum Horizont. Sie begriff nicht, worauf er sie aufmerksam machen wollte.
Sie erwachte früh und ging hinunter zum Strand. Die Sonne erhob sich aus dem Meer. Einen kurzen Moment lang dachte sie, daß Aron und Henrik an ihrer Seite seien, alle drei blickten direkt in die Sonne, bis das Licht zu stark wurde.
Sie kehrte zu Christian Holloways Dorf zurück. Es war so still wie bei ihrem ersten Besuch. Sie kam sich vor, als besuchte sie einen Friedhof. Lange blieb sie im Wagen sitzen und wartete darauf, daß sich jemand zeigte. Ein schwarzer Hund mit zottigem Fell strich über den Sandplatz. An einer Hauswand sah sie ein Tier, vielleicht eine große Ratte.
Doch keine Menschen. Die Stille war wie ein Gefängnis. Sie stieg aus dem Wagen, ging zu einem der Häuser und öffnete die Tür. Sie trat sogleich in eine andere Welt ein, in die Welt der Kranken und Sterbenden.
Deutlicher als beim ersten Besuch spürte sie den beißenden Geruch. Der Tod riecht wie scharfe Säure. Der Leichengeruch, das Gären kommt später.
Die Räume waren voller Schmutz, Unsauberkeit, Angst. Die meisten Kranken lagen zusammengekauert in Embryonalstellung auf den Pritschen und auf dem Boden, nur die kleinsten Kinder lagen ausgestreckt auf dem Rücken. Sie bewegte sich langsam zwischen den Kranken und versuchte, das Dunkel zu durchdringen. Wer waren sie? Warum lagen sie hier? Sie waren mit dem Aidsvirus infiziert, und sie würden sterben. So mußte es in den klassischen Opiumhöhlen ausgesehen haben. Aber warum ließ Christian Holloway sie in solchem Elend leben? Reichte es ihm, ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben ? Plötzlich verstand sie überhaupt nicht, was er gedacht haben mochte, als er seine Dörfer für die Armen und Kranken eingerichtet hatte.
Sie blieb stehen und betrachtete einen vor ihr liegenden Mann. Er sah sie mit glänzenden Augen an. Sie beugte sich hinab und legte die Hand auf seine Stirn. Er hatte kein Fieber. Das Gefühl, sich in einer Unterkunft für Süchtige zu befinden und nicht in einem Warteraum der Toten, verstärkte sich. Plötzlich bewegten sich die Lippen des Mannes. Sie beugte sich noch weiter vor, um zu hören, was er sagte. Der Geruch aus
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