Kennedys Hirn
herrenloses Auto im Verkehr. Doktor Raul sagt, das liege daran, daß es ein anderes Virus gibt. Er nennt es das >Virus Habgier, Typ i<. Es breitet sich ebenso schnell aus und ist ebenso tödlich wie die schleichende Krankheit. Doktor Raul versucht, der Habgier Widerstand entgegenzusetzen, dem Virus beizukommen, das sich in die Blutbahnen einer ständig größeren Zahl von Menschen eingeschlichen hat. Er schickt die Menschen, denen er vertraut, zu mir. Er will, daß sie von der >Geschichte der Grausamkeit< erfahren. Menschen kommen her, und ich erzähle ihnen, wie man schon in den fünfziger Jahren Menschen bei lebendigem Leib Körperteile entfernt hat. Menschen, die aus ihren Wohnungen entführt wurden, denen verschiedene Krankheiten injiziert wurden und die dann wie Labormäuse oder Versuchsaffen benutzt wurden. Es geschah nicht nur unter einem kranken politischen System wie dem deutschen unter Hitler. Es geschah nach dem Krieg, und es geschieht noch immer.«
»In Xai-Xai?«
»Das weiß niemand.«
»Kann Henrik einem Geheimnis auf die Spur gekommen sein?«
»Davon gehe ich aus. Ich sagte ihm, er solle vorsichtig sein. Es gibt Menschen, die bereit sind, praktisch alles zu tun, um die Wahrheit zu verbergen.«
»Hat er je mit Ihnen über John Kennedy gesprochen?«
»Den toten Präsidenten und sein verschwundenes Hirn? Er war äußerst belesen.«
»Hat er erklärt, warum er von diesem Ereignis so besessen war?«
»Es war nicht das Ereignis an sich. Präsidenten sind schon früher ermordet worden, und es wird auch in Zukunft geschehen. Jeder amerikanische Präsident ist sich dessen bewußt, daß eine große Anzahl unsichtbarer Waffen auf ihn gerichtet ist. Henrik interessierte sich nicht für das Hirn. Er wollte wissen, wie es vor sich gegangen ist. Er wollte begreifen, wie man es anstellt, etwas zu verbergen. Er ging rückwärts, um zu lernen, vorwärts zu gehen. Wenn er verstand, wie man es anstellte, auf höchstem politischem Niveau etwas zu verbergen, konnte er auch lernen, wie man es enthüllte.«
»Ich weiß, daß er in Xai-Xai etwas gesehen hat, was ihn veränderte. «
»Er kam nicht hierher zurück, obwohl er es versprochen hatte. Doktor Raul wußte auch nicht, was aus ihm geworden war.«
»Er ist geflohen, weil er Angst hatte.«
»Er hätte schreiben können, er hätte die wunderbare Elektronik nutzen können, um etwas in Doktor Rauls Ohr zu flüstern.« »Er wurde ermordet.«
Louise und der Mann ihr gegenüber wußten im selben Moment, was das bedeutete. Keiner brauchte sich mehr zu fragen. Louise fühlte, daß sie sich dem Punkt näherte, an dem Henriks Tod vielleicht seine Erklärung finden würde.
»Er muß etwas gewußt haben. Er muß auch eingesehen haben, daß sie wußten, daß er wußte. Und er floh.« »Wen meinen Sie mit >sie« fragte Louise. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Xai-Xai. Der Mann mit Namen Christian Holloway?« »Ich weiß es nicht.«
Motorgeräusch wurde hörbar. Oberst Ricardo bog mit seinem Jeep auf den Hofplatz ein. Als sie auf die Veranda hinaustreten wollten, legte Adelinho die Hand auf ihre Schulter. »Wie viele wissen, daß Sie Henriks Mutter sind?« »Hier im Land? Nicht viele.« »Es ist vielleicht besser, wenn es so bleibt.« »Wollen Sie mich warnen?« »Ich glaube nicht, daß das nötig ist.«
Oberst Ricardo hupte energisch. Als sie losfuhren, drehte sie sich um und sah Adelinho auf der Veranda stehen.
Sie vermißte ihn bereits, weil sie ahnte, daß sie ihn nie wiedersehen würde.
Mit derselben Maschine und denselben Piloten kehrte sie kurz nach zwei Uhr am Nachmittag nach Maputo zurück. Der
Passagier mit dem Buch war nicht da. Dagegen wurde ein junger Mann an Bord des Flugzeugs gebracht. Er war so schwach, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Vielleicht waren es seine Mutter und seine Schwester, die ihn stützten. Ohne es mit Bestimmtheit zu wissen, vermutete sie, daß der Mann Aids hatte. Er war nicht nur mit dem Virus infiziert, die Krankheit war jetzt ausgebrochen und auf dem Weg, ihn zu töten.
Das Erlebnis ließ Empörung in ihr aufwallen. Wenn Henrik am Leben geblieben wäre, hatte er sich am Ende vielleicht in einem ähnlichen Zustand befunden. Sie hätte ihn gestützt. Aber wer hätte sie gestützt? Sie fühlte, wie die Trauer sie überkam. Als das Flugzeug abhob, wünschte sie, es möge abstürzen und sie im Dunkel verschwinden lassen. Doch das türkisgrüne Wasser lag schon unter ihr. Sie konnte nicht rückwärts
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