Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Seite und bestellte ein Glas Rotwein. Es ging auf zehn Uhr zu. Der Albino hörte auf zu spielen, hängte sich sein Instrument um und verschwand in der Dunkelheit. Die Frau mit den drei Kindern zahlte und schaukelte wie ein Schiff mit drei Rettungsbooten im Schlepptau davon. Die Männer unterhielten sich weiter. Schließlich gingen auch sie. Der Kellner machte Anstalten, das Restaurant zu schließen. Louise zahlte und trat hinaus ins Freie. Das Wasser glitzerte im Licht einer einsamen Lampe.
    Das Pfeifen war sehr leise, aber sie hörte es sofort. Sie suchte mit dem Blick im Schatten außerhalb des Lichtkreises. Das Pfeifen wiederholte sich, genauso leise. Da entdeckte sie ihn. Er saß auf einem umgedrehten Fischerboot. Sie mußte an die Silhouetten in Henriks Tasche denken. Auf die gleiche Weise hätte der Mann, der auf sie wartete, aus dem nächtlichen Dunkel ausgeschnitten sein können.
    Er glitt von dem Boot herab und machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Er ging zur Ruine eines ehemaligen Strandpavillons, der Louise schon früher am Tag aufgefallen war. Der Name auf dem zerbröckelnden Zement war noch lesbar, »Lisboa«.
    Als sie näher kamen, sah sie, daß im Innern der Hausruine ein Feuer brannte. Der Mann ließ sich am Feuer nieder und legte ein paar Zweige nach. Sie setzte sich ihm gegenüber. Im Schein des Feuers erkannte sie, wie mager er war. Seine Gesichtshaut straffte sich über den Wangenknochen wie aufgespanntes Leder. Auf seiner Stirn waren nicht verheilte Wunden.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben. Niemand ist Ihnen gefolgt.«
    »Wieso sind Sie so sicher?«
    »Ich bin Ihnen mit dem Blick gefolgt.«
    Er vollführte eine Geste ins Dunkel. »Es gibt auch andere, die wachen.«
    »Was für andere?«
    »Freunde.«
    »Was wollen Sie mir erzählen? Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.«
    »Ich weiß, daß Sie Louise Cantor heißen.«
    Sie wollte fragen, woher er ihren Namen kannte, sah aber ein, daß sie kaum eine Antwort bekommen würde, nur eine unklare Geste ins Dunkel hinaus.
    »Es fällt mir schwer, Menschen zuzuhören, deren Namen ich nicht weiß.«
    »Ich heiße Umbi. Mein Vater gab mir den Namen nach seinem Bruder, der starb, als er jung war und in den Bergwerken in Südafrika arbeitete. Ein Schacht war eingestürzt. Man hat ihn nie gefunden. In kurzer Zeit werde ich auch sterben. Ich will mit Ihnen sprechen, weil mir nur noch eins bleibt in meinem Leben, das einzige, was vielleicht noch einen Sinn hat: zu verhindern, daß andere auf die gleiche Art und Weise sterben wie ich.«
    »Ich gehe davon aus, daß Sie Aids haben.«
    »Ich habe das Gift im Körper. Auch wenn mir alles Blut abgenommen würde, hätte ich immer noch das Gift in mir.«
    »Aber bekommen Sie Hilfe? Medikamente, die die Krankheit aufhalten?«
    »Ich bekomme Hilfe von denen, die nichts wissen.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Umbi antwortete nicht. Er legte mehr Holz aufs Feuer. Dann pfiff er leise in die Dunkelheit. Das schwache Pfeifen, das ihm antwortete, schien ihn zu beruhigen. Louise spürte ein schleichendes Unbehagen. Der Mann auf der anderen Seite des Feuers war ein Sterbender. Auf einmal verstand sie, was es bedeutete, daß jemand im Begriff war fortzugehen. Umbi war im Begriff, aus dem Leben zu gehen. Die straffgespannte Haut würde bald reißen.
    »Moises, mit dem Sie gesprochen haben, hätte nicht mit Ihnen sprechen sollen. Auch wenn Sie mit den Kranken allein im Raum waren, immer sieht jemand, was vor sich geht. Den Sterbenden ist es nicht gestattet, Geheimnisse zu haben.«
    »Warum werden die Kranken bewacht? Und Besucher wie ich? Was sollte ich den Sterbenden stehlen, bitterarmen Menschen, die bei Christian Holloway liegen, weil sie nichts besitzen?«
    »Sie holten Moises in der Morgendämmerung. Sie kamen herein, gaben ihm eine Spritze, warteten, bis er tot war, und trugen ihn in einem Laken fort.«
    »Gaben sie ihm eine Spritze, damit er sterben sollte?«
    »Ich sage nur, was geschehen ist. Nichts anderes. Ich will, daß Sie darüber berichten.«
    »Wer waren die Leute, die ihm die Spritze gaben? Waren es welche von den kleinen blassen Mädchen aus Europa?«
    »Die wissen nicht, was vor sich geht.«
    »Ich weiß es auch nicht.«
    »Deshalb bin ich hergekommen. Um zu erzählen.«
    »Ich bin hier, weil mein Sohn einmal unter den Kranken gearbeitet hat. Jetzt ist er tot. Henrik. Erinnern Sie sich an ihn?«
    »Wie sah er aus?«
    Sie beschrieb ihn. Die Trauer stieg in ihr auf, als sie sein Gesicht beschrieb.
    »Ich

Weitere Kostenlose Bücher