Kennedys Hirn
wurde. Menschen sind oft auf ermüdende Weise uninteressant. Ich glaube nicht, daß wir über wichtige Dinge gesprochen haben. Ein paar Worte über die Hitze, die Erschöpfung, die uns alle überkommt.«
»Hat er nie Fragen gestellt?«
»Mir nicht. Er schien nicht die Art Mensch zu sein.«
Louise schüttelte den Kopf. »Er war einer der wißbegierigsten und neugierigsten Menschen, denen ich begegnet bin. Das kann ich sagen, obwohl er mein Sohn ist.«
»Die Fragen, mit denen man hier konfrontiert wird, liegen auf einer anderen, einer inneren Ebene. Wenn man vom Tod umgeben ist, drehen die Fragen sich um den Sinn des Ganzen. Und das sind Fragen in der Stille, die man an sich selbst richtet. Das Leben besteht darin, Willen zum Widerstand zu beweisen. Am Ende gelangen die Jägerameisen trotz allem in deinen Körper.«
»Jägerameisen?«
»Vor vielen Jahren verbrachte ich einige Monate in einem entlegenen Dorf weit oben im nordwestlichen Sambia. Früher hatte es dort einmal Franziskanermönche gegeben. Aber sie hatten den Ort Mitte der fünfziger Jahre verlassen und sich weiter südlich angesiedelt, zwischen Solwezi und Kitwe. Die Gebäude, die sie hinterlassen hatten, waren von einem Paar aus Arkansas übernommen worden, das eine geistliche Oase errichten wollte, ohne Bindung an eine bestimmte Religion. Da kam ich mit den Jägerameisen in Kontakt. Was wissen Sie von ihnen?«
»Nichts.«
»So geht es den meisten Menschen. Wir stellen uns vor, daß Raubtiere kraftvoll sind. Vielleicht nicht immer groß von Wuchs, aber selten so klein wie Ameisen. Eines Nachts, als ich mit den Wachen allein war, wurde ich von Rufen in der Dunkelheit und Klopfen an meiner Tür geweckt. Die Wachen hatten Fackeln, mit denen sie das Gras anzündeten. Ich hatte nichts an den Füßen, als ich hinausging. Sofort spürte ich einen stechenden Schmerz in den Füßen. Ich wußte nicht, was es war. Die Wachen riefen, daß es Ameisen seien, Armeen von Jägerameisen auf dem Marsch. Sie fressen alles in ihrem Weg, und man kann sie nicht bekämpfen. Aber dadurch, daß man Feuer im Gras anzündet, kann man sie dazu bringen, die Richtung zu ändern und einen anderen Weg zu nehmen. Ich zog mir Stiefel an, holte eine Taschenlampe und sah kleine, wütende Ameisen in perfekten Formationen vorbeimarschieren. Vom Hühnerhaus her hörte ich plötzlich ein schreckliches Gackern. Die Wachen versuchten, die Hühner zu greifen und hinauszujagen. Doch es war schon zu spät, es ging unfaßbar schnell. Die Hühner verteidigten sich, indem sie die Ameisen aufpickten. Aber sie lebten in den Mägen der Hühner weiter und begannen, deren Eingeweide zu fressen. Nicht ein einziges Huhn überlebte. Sie rasten umher, wie wahnsinnig von dem Schmerz durch die Ameisen, die sie von innen zerbissen. Ich habe oft daran denken müssen. Die Hühner verteidigten sich und verschafften sich auf diese Weise ihren eigenen qualvollen Tod.« »Ich kann mir vorstellen, wie es ist, von Hunderten von Ameisen gebissen zu werden.«
»Ich frage mich, ob Sie das tatsächlich können. Ich kann es nicht. Eine der Wachen bekam eine Ameise ins Ohr. Da saß sie und biß in sein Trommelfell. Die Wache schrie grauenhaft, bis ich dem Mann Whisky ins Ohr goß und die Ameise tötete. Eine einzige Ameise, weniger als einen halben Zentimeter lang. «
»Gibt es die Ameisen auch hier im Land?«
»Sie existieren auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Sie zeigen sich nach kräftigen Regenfallen, sonst nie.«
»Es fällt mir schwer, das Gleichnis vom Leben als einen Zustand mit Ameisen im Körper zu verstehen.«
»Es ist wie mit den Hühnern. Die Tragödie des Lebens wird von den Menschen selbst herbeigeführt. Sie kommt nicht von außen.«
»Da bin ich nicht mit Ihnen einig.«
»Es ist mir klar, daß es Götter gibt, die man kaufen oder leihen kann, wenn der Schmerz zu stark wird. Aber für mich hat dieser Weg nie einen Trost geboten.«
»Statt dessen versuchen Sie, die Ameisen umzuleiten? Solange es geht?«
Christian Holloway nickte.
»Sie folgen meinem Gedankengang. Natürlich bedeutet das nicht, daß ich mir einbilde, es könnte mir gelingen, der endgültigen Tragödie Widerstand entgegenzusetzen. Der Tod befindet sich ständig an der Seite des Menschen. Die wirklichen Wartesäle des Todes sind die Säle, in denen Frauen Kinder zur Welt bringen.«
»Haben Sie Henrik von den Ameisen erzählt?«
»Nein. Er war zu weich. Die Geschichte hätte ihm Alpträume verursachen können. «
»Henrik war
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