Kennedys Hirn
nicht weich.«
»Kinder legen ihren Eltern gegenüber nicht immer das gleiche Verhalten an den Tag wie fremden Menschen gegenüber. Ich weiß das, weil ich selbst Kinder habe. Trotz allem streift ein dünner Hauch von Sinn das Leben.«
»Sind Ihre Kinder hier?«
»Nein. Drei leben in Amerika und eins ist tot. Wie Ihr Sohn. Auch ich habe einen Sohn, der vorzeitig aus dem Leben ging.«
»Dann wissen Sie, wie groß der Schmerz ist.«
Christian Holloway betrachtete sie lange. Er blinzelte selten. Wie eine Eidechse, dachte sie. Ein Reptil.
Sie schauderte.
»Frieren Sie? Soll ich es wärmer machen?«
»Ich bin müde.«
»Die Welt ist müde. Wir leben in einer rheumatischen alten Welt, obwohl es von Kindern wimmelt, wohin man sich auch wendet. Überall Kinder, während wir zwei hier sitzen und die betrauern, die den Tod gewählt haben.«
Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, was er gesagt hatte.
»Hat Ihr Sohn sich das Leben genommen?«
»Er wohnte in Los Angeles bei seiner Mutter. Eines Tages, als er allein war, leerte er den Swimmingpool, kletterte auf den Sprungturm und stürzte sich hinunter. Eine der Wachen hörte ihn schreien. Er starb nicht sofort, aber bevor der Krankenwagen eintraf, war alles vorbei.«
Der weißgekleidete Diener zeigte sich in der Tür. Er machte ein Zeichen.
Christian Holloway stand auf. »Jemand braucht einen Rat. Das ist es, was mir eigentlich wichtig ist, Menschen zu helfen, indem man zuhört und vielleicht einen Rat anbietet. Ich bin gleich zurück.«
Louise trat an die Wand und betrachtete die Madonna. Es war ein Original, ein Meisterwerk. Es mußte von einem byzantinischen Meister in Griechenland im 12. oder im frühen 13. Jahrhundert geschaffen worden sein. Wie Christian Hol-loway auch an das Bild herangekommen sein mochte, es mußte viel Geld gekostet haben.
Sie ging im Zimmer herum. Die Computerbildschirme leuchteten. Beide Bildschirmschoner zeigten Delphine, die aus einer türkisfarbenen Meeresoberfläche aufschossen. Eine der Schreibtischschubladen stand halb offen.
Sie konnte den Impuls nicht unterdrücken und zog die Schublade heraus. Zuerst konnte sie den Gegenstand, der dort lag, nicht bestimmen.
Dann erkannte sie, daß es ein getrocknetes Gehirn war. Klein, geschrumpft, wahrscheinlich das eines Menschen.
Sie schob die Schublade wieder zurück. Ihr Herz pochte wild. Ein getrocknetes Gehirn. Kennedys verschwundenes Hirn.
Sie ging zu ihrem Stuhl zurück. Ihre Hand zitterte, als sie die Teetasse hob.
Gab es einen Zusammenhang zwischen Henriks Besessenheit von dem, was 1963 in Dallas geschehen war, und dem, was sie in Christian Holloways Schreibtisch entdeckt hatte? Sie zwang sich, ihre Phantasie zu zügeln. Ihre Schlußfolgerung war zu einfach. Eingebildete Keramikscherben legten sich zu eingebildeten Mustern zurecht. Sie wollte keine wild gewordene Archäologin sein, deren Phantasie Amok lief. Das Schrumpfhirn in der Schublade hatte nichts mit Henrik zu tun. Jedenfalls konnte sie nicht davon ausgehen, bevor sie mehr wußte.
Die Tür wurde geöffnet. Christian Holloway kam zurück. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen.«
Er blickte ihr in die Augen und lächelte. Sie war plötzlich überzeugt, daß er ihren Gang durch das Zimmer irgendwie beobachtet hatte. Vielleicht gab es ein Guckloch in einer der Wände? Oder eine Kamera, die sie nicht entdeckt hatte? Er hatte gesehen, wie sie das Bild studierte und die Schreibtischschublade herauszog. Sie war halb geöffnet gewesen, eine Versuchung. Vermutlich hatte er den Raum verlassen, um zu sehen, was sie tun würde.
»Vielleicht können Sie auch mir einen Rat geben«, sagte sie mit erzwungener Ruhe.
»Ich kann es auf jeden Fall versuchen.«
»Es geht um Henrik und um Ihren Sohn. Wir teilen die Erfahrung, die alle Eltern fürchten.«
»Steve beging eine Handlung in Wut und Verzweiflung. Henrik ist in seinem Bett eingeschlafen, wenn ich richtig verstanden habe. Steve kehrte es nach außen, Henrik nach innen. Das sind zwei entgegengesetzte Wege.«
»Dennoch führten sie beide in die gleiche Richtung.«
Steve. Der Name rief eine undeutliche Erinnerung wach. Sie war schon einmal auf ihn gestoßen, konnte sich aber nicht erinnern, wo und wann. Steve Holloway? Sie suchte, doch die Erinnerung gab keine Antwort.
»Als Steve sich ins Dunkel stürzte, war es für seine Mutter wie für mich eine unerwartete Katastrophe«, sagte Christian Holloway. »Selbst sein Stiefvater, der ihn eigentlich
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