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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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gingen schräg über die lange Straße, die Lenins Namen trug.
    Lucinda blieb vor einer Bäckerei stehen, die mit einem Theater das Lokal teilte. »Ich hätte dir Frühstück machen sollen.«
    »Ich bin nicht hungrig.«
    »Du bist hungrig, aber du willst es nicht zugeben. Ich habe nie verstanden, warum es weißen Menschen so schwer fällt, in Kleinigkeiten des Lebens aufrichtig zu sein. Ob man gut schläft, ob man gegessen hat, ob man sich danach sehnt, saubere Sachen anzuziehen.«
    Lucinda ging in die Bäckerei und kam mit zwei runden Brötchen in einer Papiertüte zurück. Sie nahm das eine selbst und gab Louise das andere.
    »Laß uns hoffen, daß alles einmal eine Erklärung und ein Ende findet.«
    »Umbi war der zweite Tote, den ich in meinem Leben gesehen habe. Henrik war der erste. Haben Menschen kein Gewissen?« »Menschen haben fast nie ein Gewissen. Die Armen nicht, weil sie es sich nicht leisten können, die Reichen nicht, weil sie glauben, daß es ihr Geld kostet.«
    »Henrik hatte ein Gewissen. Er hatte es von mir.«
    »Henrik war wohl wie die meisten auch!«
    Louise hob die Stimme. »Er war nicht wie die meisten auch! «
    »Henrik war ein guter Mensch.«
    »Er war viel mehr.«
    »Kann man mehr sein als ein guter Mensch?«
    »Er wollte das Wohl anderer Menschen.«
    Lucinda schlug mit einem hart klickenden Laut die Zähne zusammen. Dann zog sie Louise in den Schatten einer Markise vor einem Schuhgeschäft. »Er war wie andere. Er hat sich nicht immer anständig verhalten. Warum hat er mir angetan, was er mir angetan hat? Antworte mir darauf! «
    »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Er hat mich mit Aids angesteckt. Ich habe es von ihm. Als du das erste Mal gefragt hast, habe ich es abgestritten. Ich fand, daß du auch so schon genug zu tragen hattest. Aber jetzt geht es nicht mehr. Jetzt sage ich es, wie es ist. Wenn du es nicht schon so erkannt hast.«
    Lucinda schleuderte ihr die Worte ins Gesicht. Louise leistete keinen Widerstand, weil sie einsah, daß Lucinda recht hatte. Louise hatte die Wahrheit geahnt, seit sie in Maputo angekommen war. Henrik hatte ihr die Krankheit verheimlicht, er hatte ihr nie von seiner Wohnung in Barcelona erzählt. Nach seinem Tod, jetzt, da sie sich selbst als tot empfand, war sie gezwungen, sich einzugestehen, daß sie ihn fast gar nicht gekannt hatte. Wann die Veränderung eingetreten war, wußte sie nicht, sie mußte schleichend gekommen sein, ohne daß es ihr aufgefallen war. Henrik hatte ihr verheimlichen wollen, daß er im Begriff war, ein anderer zu werden.
    Lucinda ging weiter. Sie erwartete keine Antwort von  Louise. Die Wache vor dem Schuhgeschäft betrachtete neugierig die beiden Frauen.
    Louise wurde so wütend, daß sie zu dem Wachmann ging und ihn auf schwedisch ansprach. »Ich weiß nicht, warum du uns so anstarrst. Aber wir lieben uns. Wir sind Freundinnen. Wir sind wütend, aber wir lieben uns.«
    Dann schloß sie zu Lucinda auf und ergriff ihre Hand. »Das habe ich nicht gewußt.«
    »Du hast geglaubt, ich hätte ihn angesteckt. Du hast vorausgesetzt, die schwarze Hure hätte ihm die Krankheit gegeben.«
    »Ich habe dich nie als Prostituierte angesehen.«
    »Weiße Männer betrachten schwarze Frauen fast immer als ständig verfügbar, jederzeit und überall. Wenn ein schönes schwarzes Mädchen von zwanzig Jahren zu einem fetten weißen Mann sagt, e$ liebe ihn, dann glaubt er ihr. Als so überwältigend empfindet er seine Macht, wenn er in ein armes Land in Afrika kommt. Henrik hat mir erzählt, daß es in Asien nicht anders ist.«
    »Henrik hat dich doch wohl nie als Prostituierte angesehen?«
    »Wenn ich ehrlich sein soll, ich weiß es nicht.«
    »Hat er dir Geld angeboten?«
    »Das ist nicht nötig. Viele der weißen Männer finden, wir sollten dankbar dafür sein, daß wir die Beine breit machen dürfen.«
    »Das ist widerwärtig.«
    »Es geht noch widerwärtiger. Wenn ich von Mädchen erzähle, die acht oder neun Jahre alt sind.«
    »Ich will das nicht hören.«
    »Henrik wollte es hören. Wie abstoßend es auch war, er wollte es hören. >Ich will es wissen, damit ich verstehe, warum ich es nicht wissen will.< Das hat er gesagt. Zuerst glaubte ich, er wolle sich wichtig tun. Dann habe ich verstanden, daß er wirklich meinte, was er sagte.«
    Lucinda blieb stehen. Sie waren zu einem Internetcafe gekommen, das in einem kürzlich renovierten Steinhaus lag. Auf dem Bürgersteig davor saßen Frauen auf kleinen Bastmatten und hatten Waren zum Verkauf

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