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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wollte sie reden.
    Sie setzten sich in einen der Aufenthaltsräume. In einer Ecke tickte eine alte Standuhr. Nazrin befingerte abwesend einen kleinen Ausschlag an ihrer Wange.
    Louise beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Es fällt mir nicht leicht, dies zu sagen. Aber es geht nicht anders. Henrik war HIV-positiv. Seit ich es erfahren habe, mußte ich an dich denken und habe mir Sorgen gemacht.«
    Louise hatte darüber nachgegrübelt, wie Nazrin die Nachricht aufnehmen würde. Wie würde sie selbst reagieren? Aber die Reaktion, die kam, hatte sie nicht erwartet.
    »Ich weiß.«
    »Hat er es dir selbst gesagt?«
    »Er hat nichts gesagt. Erst nachdem er tot war.«
    Nazrin öffnete ihre Handtasche und zog einen Brief heraus.
    »Lies das.«
    »Was ist es?«
    »Lies!«
    Der Brief war von Henrik. Er war kurz. Er schrieb, wie er entdeckt habe, daß er HIV-positiv war, aber daß er hoffe, immer vorsichtig genug gewesen zu sein, um sie nicht anzustecken.
    »Ich bekam diesen Brief vor einigen Wochen. Er kam aus Barcelona. Jemand muß ihn dort eingeworfen haben, als er erfahren hat, daß Henrik tot ist. Henrik hatte es bestimmt so geplant. Er sprach häufig davon, was geschehen sollte, wenn etwas passierte. Ich fand immer, daß er so dramatisch war. Jetzt verstehe ich es besser, jetzt, wo es zu spät ist.«
    Bianca mußte den Brief in ihrer Wohnung gehabt haben, als Louise und Aron dort waren. Er hatte ihr eine Anweisung gegeben: »Schick den Brief nur ab, wenn ich sterbe.«
    »Ich habe nie Angst gehabt. Wir waren immer vorsichtig. Ich habe natürlich einen Test machen lassen. Es war nichts.«
    »Verstehst du, wie mir vor diesem Gespräch gegraut hat?«
    »Vielleicht. Aber Henrik würde mich nie in Gefahr gebracht haben.«
    »Aber wenn er nicht gewußt hätte, daß er angesteckt war?«
    »Er wußte es.«
    »Dennoch hat er dir nichts gesagt.«
    »Vielleicht hatte er Angst, ich würde ihn verlassen. Vielleicht hätte ich es getan. Darauf kann ich nicht antworten.«
    Eine Frau kam herein und fragte, ob sie im Hotel zu Abend essen wollten. Sie nickten beide. Nazrin wollte plötzlich Spazierengehen. Sie gingen am Fluß entlang. Louise erzählte von ihrer langen Reise nach Afrika und allem, was geschehen war. Nazrin fragte nicht viel. Sie kletterten auf eine kleine felsige Anhöhe und betrachteten die Aussicht.
    »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte Nazrin, »Henrik soll getötet worden sein, weil er etwas wußte? Und Aron soll aus dem gleichen Grund verschwunden sein?«
    »Ich erwarte nicht, daß du mir glaubst. Ich möchte nur wissen, ob es Erinnerungen bei dir weckt. An etwas, was Henrik gesagt oder getan hat. Ein Name, den du vielleicht vorher schon gehört hast.«
    »Nichts.«
    Sie sprachen bis spät in den Abend. Als Louise am Tag danach abreiste, schlief Nazrin noch. Louise hinterließ eine Nachricht, bezahlte ihre Zimmer und fuhr durch die Wälder nach Norden zurück.
    In den folgenden Wochen umgab sie sich mit der Stille und dem Warten des späten Herbstes und frühen Winters. Manchmal schlief sie morgens lange, und sie schloß ihren Bericht für die Universität über die Ausgrabungen des Jahres ab. Sie sprach mit Freunden und Kollegen, überall begegnete ihr Verständnis, und alle wünschten, daß sie zurückkäme, wenn sie ihre Trauer überwunden hätte. Aber sie wußte, daß sie ihre Trauer nicht überwinden könnte, sie würde bleiben und sie würde wachsen.
    Hin und wieder besuchte sie den einsamen Polizeibeamten in seinem kleinen Büro. Er hatte nie irgendwelche Neuigkeiten mitzuteilen. Aron war noch nicht gefunden worden, obwohl er jetzt weltweit gesucht wurde. Er war fort, wie so viele Male zuvor, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.
    Während dieser Zeit dachte Louise nicht viel über ihre Zukunft nach. Sie existierte noch nicht. Sie stand zwar weiterhin aufrecht, hatte aber das Gefühl, als könnte sie jederzeit zusammenbrechen. Die Zukunft war ein weißes Blatt, eine leere Fläche. Sie machte lange Spaziergänge, über die alte Eisenbahnbrücke und dann zurück über die neue Brücke. Manchmal stand sie frühmorgens auf, warf sich einen von Arturs alten Rucksäcken über und verschwand in den Wald, um erst in der Dämmerung zurückzukommen.
    Es war eine Zeit, in der sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu versöhnen, daß sie vielleicht nie verstehen würde, was  Henrik in den Tod getrieben hatte. Sie mühte sich immer noch, die Stücke zu drehen und zu wenden und nach einem Zusammenhang

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