Kennedys Hirn
bekam ein Doppelzimmer, das auf ausgedehnte Olivenplantagen hinausging. Sie setzte sich auf den Balkon, spürte die schwachen Bewegungen des Herbstwindes und holte eine Wolldecke. Von weit her hörte sie Musik und lachende Menschen. Sie dachte an das, was Mitsos erzählt hatte. Wer der Mann war, der sie gesucht hatte, wußte sie nicht. Aber diejenigen, die ihrer Spur folgten, waren näher, als sie geglaubt hatte. Es war ihr nicht gelungen, sie abzuschütteln.
Sie nehmen an, daß ich etwas weiß oder daß ich nicht aufgebe, bevor ich gefunden habe, was ich suche. Ich könnte mich nur von ihnen befreien, wenn ich aufhöre zu suchen. Ich glaubte, ich hätte sie hinter mir gelassen, als ich aus Afrika abreiste. Aber das war ein Irrtum.
In der Dunkelheit auf dem Balkon faßte sie einen Entschluß. In Griechenland würde sie nicht bleiben. Sie konnte wählen zwischen der Rückkehr nach Barcelona oder der Heimreise nach Schweden. Die Entscheidung fiel ihr nicht schwer. Sie brauchte Artur jetzt.
Am folgenden Tag packte sie ihre Sachen und verließ das Haus. Sie legte die Schlüssel in Mitsos' Briefkasten und schrieb, sie hoffe, eines Tages zurückzukommen und den Schaukelstuhl abholen zu können, den sie von Leandros bekommen habe. In einen Umschlag steckte sie Geld und bat
Mitsos, Blumen oder Zigaretten für Leandros zu kaufen und ihm gute Besserung zu wünschen.
Sie fuhr zurück nach Athen. Es war diesig, der Verkehr dicht und hektisch. Sie fuhr viel zu schnell, obwohl sie keine Eile hatte. Die Zeit war außerhalb von ihr, unbeeinflußbar. In dem Wirbel, in dem sie sich befand, herrschte Zeitlosig-keit.
Am Abend bekam sie einen Platz in einer SAS-Maschine nach Kopenhagen mit Anschlußflug nach Stockholm. Gegen Mitternacht war sie in Arlanda und nahm ein Zimmer im Flughafenhotel. Arons Geld reichte immer noch für ihre Flüge und Hotelrechnungen. Vom Zimmer aus rief sie Artur an, nachdem sie die Abflüge des folgenden Tags studiert hatte. Sie bat ihn, sie in Östersund abzuholen. Sie würde am Abend ankommen, weil sie zunächst noch einmal Henriks Wohnung aufsuchen wollte. Sie spürte seine Erleichterung darüber, daß sie wieder zu Hause war.
»Wie geht es dir?«
»Ich bin zu müde, um jetzt darüber zu sprechen.«
»Es schneit«, sagte er. »Ein leichter und leiser Schneefall. Es ist vier Grad unter null, und du fragst mich nicht einmal, wie die Elchjagd war.«
»Entschuldige. Wie war sie?«
»Sie war gut. Aber viel zu kurz.«
»Hast du selbst einen geschossen?«
»Die Elche zeigten sich nie in meinen Abschnitten. Aber wir brauchten nur zwei Tage, um unsere Quote zu schießen. Ich hole dich ab, wenn du weißt, mit welcher Maschine du kommst.«
In dieser Nacht schlief sie zum ersten Mal seit langem, ohne immer wieder von Träumen hochgerissen zu werden. Sie stellte ihr Gepäck bei einer Gepäckaufbewahrung ab und nahm den Zug nach Stockholm. Ein kalter Regen fiel über der Stadt, böige Winde zogen von der Ostsee herüber. Sie duckte sich gegen den Wind, als sie sich in Richtung Slussen auf den Weg machte. Aber es war zu kalt, sie entschied sich anders und winkte ein freies Taxi heran. Als sie auf der Rückbank saß, sah sie plötzlich wieder Umbis Gesicht vor sich.
Nichts ist vorbei. Louise Cantor ist noch immer von Schatten umgeben.
Auf der Straße nahm sie all ihre Kraft zusammen, bevor sie das Treppenhaus in der Tavastgata betrat und die Tür zu Henriks Wohnung aufschloß.
Ein paar Reklamezettel und Stadtteilzeitungen lagen hinter der Tür auf dem Boden. Sie nahm sie mit in die Küche, setzte sich an den Tisch und lauschte. Von irgendwo erklang Musik. Vage erinnerte sie sich daran, daß sie die gleiche Musik schon früher gehört hatte, als sie in Henriks Wohnung gewesen war.
In Gedanken kehrte sie zu dem Augenblick zurück, in dem sie Henrik tot gefunden hatte.
Er schlief immer nackt. Aber jetzt hatte er einen Schlafanzug an.
Plötzlich wurde ihr klar, daß es eine Erklärung für den Schlafanzug gab, die sie bisher übersehen hatte, weil sie sich geweigert hatte zu glauben, er habe Selbstmord begangen. Aber wenn es doch so war? Er wußte, daß er tot wäre, wenn ihn jemand fand. Dann wollte er nicht nackt sein, und deshalb hatte er einen gebügelten Schlafanzug angezogen.
Sie ging ins Schlafzimmer und sah auf das Bett. Vielleicht hatten Göran Vrede und der Gerichtsmediziner recht? Henrik hatte sich das Leben genommen. Er hatte den Gedanken an seine Krankheit nicht ertragen, vielleicht war auch
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