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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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die einzige Schulter gelehnt, die ihr noch geblieben war.
    Am Tag darauf ging sie zur Polizeistation im Kommunalgebäude und veranlaßte eine formelle Suche nach Aron. Den Polizeibeamten, der ihre Suchmeldung aufnahm, kannte sie aus ihrer Jugend. Er war ein paar Klassen über ihr in die Volksschule gegangen. Er hatte ein Moped gehabt, und sie war grenzenlos in ihn verliebt gewesen oder vielleicht in das Moped. Er sprach ihr sein Beileid aus, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.
    Anschließend ging sie zum Friedhof. Eine dünne Schneedecke lag auf dem Grab. Es war noch kein Stein da, aber Artur hatte gesagt, er habe ihn bei einem Steinmetz in Ostersund bestellt.
    Als sie zum Friedhof gekommen war, hatte sie gedacht, sie würde das, was sie erwartete, nicht ertragen. Aber als sie am Grab stand, war sie gefaßt, beinah kalt.
    Henrik ist nicht hier. Er ist in meinem Innern, nicht im Boden unter dem dünnen Schnee. Er hatte eine lange Reise zurückgelegt, so jung er auch war, als er starb. In dieser Hinsicht glichen wir einander. Wir nehmen beide das Leben ungeheuer ernst.
    Eine Frau ging auf einem der Wege zwischen den Gräbern vorbei. Sie grüßte Louise, blieb aber nicht stehen. Louise meinte, sie zu kennen, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern.
    Es begann zu schneien. Als Louise den Friedhof verlassen wollte, klingelte das Handy in ihrer Tasche. Es war Nazrin. Louise verstand zunächst nur schwer, was sie sagte, weil Naz-rin von starkem Lärm umgeben war.
    »Kannst du mich hören?« Nazrin rief ins Telefon.
    »Schwach. Wo bist du?«
    »Die Zeiten ändern sich. Früher fragte man zuerst: >Wie geht es dir?< Heute will man immer eine geographische Bestimmung: >Wo bist du?<, bevor man nach der Gesundheit fragt.«
    »Ich kann dich kaum verstehen.«
    »Ich bin auf dem Hauptbahnhof. Züge kommen und gehen. Die Menschen hetzen.«
    »Willst du verreisen?«
    »Ich komme gerade aus Katrineholm. Und wo bist du?«
    »Ich stehe an Henriks Grab.«
    Nazrins Stimme verschwand für einen Augenblick, kam aber wieder.
    »Hab ich richtig gehört? Bist du da oben?«
    »Ich bin am Grab, es schneit. Es ist ganz weiß.«
    »Ich wünschte, ich wäre auch da. Ich gehe hinein zu den Kartenverkaufsschaltern. Da ist es leiser.«
    Louise hörte, wie der Lärm gedämpft und von einzelnen Stimmen abgelöst wurde, die aufklangen und verschwanden.
    »Hörst du mich jetzt besser?«
    Nazrins Stimme war ganz nah. Louise konnte fast ihren Atem am Ohr spüren. »Ich höre dich ganz klar.«
    »Du warst einfach verschwunden. Ich habe mich gefragt, wo du bist.«
    »Ich habe eine lange Reise gemacht. Es war aufwühlend, erschreckend. Ich muß dich treffen. Kannst du herkommen?«
    »Können wir uns auf halbem Weg treffen? Ich habe das Auto meines Bruders, während er im Ausland ist. Ich fahre gern.«
    Louise erinnerte sich, daß Artur und sie einmal auf einer Reise nach Stockholm in Järvsö übernachtet hatten. Vielleicht war das der halbe Weg? Sie schlug vor, sich dort zu treffen.
    »Ich weiß nicht, wo Järvsö liegt. Aber ich finde es. Ich kann morgen dasein. Treffen wir uns an der Kirche? Um zwei Uhr?«
    »Warum an der Kirche?«
    »Gibt es keine Kirche in Järvsö? Weißt du etwas Besseres? Eine Kirche findet man immer.«
    Als sie sich von Nazrin verabschiedet hatte, ging Louise in die Kirche von Sveg. Sie erinnerte sich daran, als Kind oft hiergewesen zu sein, allein, um das große Altarbild zu betrachten und sich vorzustellen, daß die römischen Soldaten aus dem Bild stiegen, um sie zu fangen. Sie hatte es das Gruselspiel genannt, sie spielte mit ihrer eigenen Angst in der Kirche.
    Früh am nächsten Morgen brach Louise auf. Es hatte aufgehört zu schneien, aber die Straßen konnten glatt sein. Sie wollte genug Zeit haben. Obwohl die Temperatur unter null war, stand Artur mit bloßem Oberkörper auf dem Hof und sah ihr nach.
    Sie trafen sich zur vereinbarten Zeit an der Kirche, die auf einer Insel mitten im Ljusnan lag. Nazrin kam in einem teuren Mercedes. Die Wolkendecke war fortgezogen, die Sonne schien, der frühe Winter hatte einen Schritt rückwärts getan, und es war noch einmal Herbst.
    Louise fragte als erstes, ob Nazrin es eilig habe zurückzufahren.
    »Ich kann bis morgen bleiben.«
    »Es gibt hier das altehrwürdige Hotel Järvsöbaden. Ich glaube kaum, daß jetzt Hochsaison ist.«
    Sie bekamen zwei Zimmer in einem Nebengebäude. Louise fragte, ob Nazrin einen Spaziergang machen wolle. Aber sie schüttelte den Kopf. Noch nicht, jetzt

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